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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Ferry
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Tiefes Schweigen folgte dem Ruf, der sich eben hatte hören lassen, während unter dem Nebel der Berge ein dumpfer Donner grauenvoll widerhallte.
    Die Szene war den handelnden Personen angemessen. Schwarze Geier schwebten kreisend über ihnen, und ihr scharfes Geschrei mischte sich in das ferne Rollen auf den Hügeln, als ob sie eine neue Beute ahnten oder den Leichnam bedauerten, den der Abgrund verschlungen hatte.
    Nach der ersten Bewegung des Erstaunens, die durch ein Schauspiel, das alle so wenig erwartet hatten, hervorgerufen worden war, wiederholte Fabian: »Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?«
    Im Herzen Medianas fand ein heftiger Kampf zwischen seinem Gewissen und seinem Stolz statt. Der Stolz trug den Sieg davon. »Nichts«, antwortete Don Antonio. »Nichts?« erwiderte Fabian. »Aber Ihr begreift vielleicht nicht die schreckliche Pflicht, die ich noch erfüllen muß?«
    »Ich begreife sie.«
    »Und ich«, rief Fabian mit erhobener Stimme, »ich werde sie zu erfüllen wissen! Und doch – obwohl das Blut meiner Mutter um Rache schreit, reinigt Euch von der Schuld, und ich will Eure Worte segnen. Schwört mir beim Namen Mediana, den wir beide tragen; schwört auf Eure Ehre, beim Heil Eurer Seele, daß Ihr unschuldig seid, und ich werde glücklich sein, Euch glauben zu können.«
    Dann erwartete Fabian unter dem Gewicht einer unaussprechlichen Angst die Antwort Medianas; aber unbeugsam und ruhig wie der gefallene Erzengel blieb Mediana schweigsam und still.
    In diesem Augenblick näherte sich Diaz den Richtern und dem Angeklagten und sagte: »Ich habe mit tiefer Aufmerksamkeit die gegen Don Estévan de Arechiza, den ich auch unter dem Namen Herzog von Armada kannte, gerichtete Anklage mit angehört. Darf ich hier frei aussprechen, was ich davon denke?«
    »Redet!« antwortete Fabian.
    »Ein Punkt scheint mir zweifelhaft. Ich weiß nicht, ob das Verbrechen, das man diesem edlen Kavalier vorwirft, von ihm begangen worden ist; aber dies auch zugegeben – habt Ihr ein Mandat, ihn zu richten? Nach den Gesetzen an unseren Grenzen, wo die Tribunale keine Sitzung halten können, haben nur die nächsten Verwandten des Getöteten das Recht, das Blut des Schuldigen zu fordern. Don Tiburcio hat seine Jugend in diesem Land verlebt; ich habe ihn als den Adoptivsohn des Gambusinos Marcos Arellanos kennengelernt. Was beweist, daß Tiburcio Arellanos der Sohn der ermordeten Frau ist? Wie hat nach so langen Jahren der frühere Matrose, der jetzt hier gegenwärtige Jäger mitten in diesen Steppen in dem hier stehenden Mann den Knaben wiederzuerkennen vermocht, den er nur einen Augenblick in einer nebligen Nacht gesehen hat?«
    »Antworte, Bois-Rosé!« sagte Fabian kalt.
    Der Kanadier erhob sich abermals. »Zunächst muß ich Euch sagen«, begann der alte Jäger, »daß ich den Knaben, um den es sich handelt, nicht bloß einen einzigen Augenblick in einer nebligen Nacht gesehen habe. Nachdem ich ihn einem gewissen Tod entrissen hatte, habe ich zwei Jahre lang mit ihm an Bord eines Schiffes gelebt, auf das ich ihn gebracht hatte. Die Züge eines Sohnes sind nicht tiefer in das Gedächtnis eines Vaters gegraben, als die Züge dieses Kindes in dem meinigen hafteten.
    Jetzt komme ich zu der Frage: Wie habe ich ihn wiedererkannt? Wenn Ihr in der Einöde auf ungebahntem Pfad geht, richtet Ihr Euch da nicht nach dem Lauf der Flüsse, nach dem Aussehen der Bäume, nach der Gestalt ihrer Stämme, nach dem Zustand des Mooses, das sie bedeckt, nach den Sternen am Himmel? Wenn Ihr denselben Weg wieder im folgenden Jahr nehmt oder zwanzig Jahre später oder in einer nächtlichen Stunde; wenn der Fluß vom Regen angeschwollen ist; wenn ihn die Sonne halb ausgetrocknet hat; wenn Blätter den Baum bedecken, den Ihr im Winter unbelaubt gesehen habt; wenn sein Stamm stärker geworden ist; wenn das Moos sich verdichtet hat – würdet Ihr nicht immer den Stern, den Baum oder den Bach erkennen?«
    »Ganz gewiß«, erwiderte Diaz; »der Mann, der die Steppe durchstreift hat, täuscht sich darin nicht. Aber ...«
    Der Kanadier fuhr, den Abenteurer unterbrechend, fort: »Wenn Ihr in den Savannen einem Unbekannten begegnet, der den Schrei des Vogels oder die Stimme des Tieres mit Euch austauscht, die Euch oder Euren Freunden als Erkennungszeichen dienen, sagt Ihr da nicht: ›Dieser Mann gehört zu uns!‹?«
    »Ganz gewiß!«
    »Wohlan! Ich habe das Kind in dem erwachsenen Mann wiedererkannt, wie Ihr den schwanken Schößling in dem groß

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