Der Waldläufer
ihnen lastete, aus dem Felsen lösten, Cuchillo hängen sehen, der, über dem Abgrund schwebend, vor Angst heulte.
»Zu Hilfe!« schrie er. »Zu Hilfe, wenn Ihr noch ein menschliches Herz in der Brust tragt!«
Die drei Freunde wechselten einen unbeschreiblichen Blick. Jeder von ihnen trocknete den Schweiß von seiner Stirn. Alle drei horchten ängstlich. Ein kurzes Schweigen folgte den flehentlichen Bitten Cuchillos. Der übermäßige Schreck erstickte ohne Zweifel seine Stimme, oder sein Verstand war unter einer so schrecklichen Erschütterung erloschen. In der Tat machte ein lautes, noch viel gräßlicheres Gelächter sie fast starr vor Schreck.
»Ah ...! Ah ...!« rief die Stimme des Banditen. »Warum funkeln die Augen Don Estévans so sehr ...? Warum strahlt dieser Goldblock so glänzenden Schein aus ...? Ah, ich habe es ... Don Estévan ... Das Gold ... Seine Augen ... Ah ...! Ah ...!«
Es rauschte einen Augenblick stärker im Abgrund; das war das Zeichen, daß der Körper eben bis auf den Grund des Sees gefallen war, der durch den Wasserfall gebildet wurde, der bald die ganze feierliche Einförmigkeit seiner Stimme wiedergewonnen hatte.
»Ach«, sagte Fabian, »Ihr habt dem menschlichen Gericht seinen erhabenen Charakter genommen.«
»Vielleicht«, antwortete Pepe. »Aber das Gottesgericht, das eben vollzogen wurde, war noch schrecklicher.«
47 Die inneren Stimmen
Unterdessen wurden die von den Höhen gebildeten Schatten nach Osten zu unmerklich immer länger und ragten nach und nach in die Ebene hinein. Unter diesen Schatten, die in dem Maße größer wurden, als die Sonne, ihren ewigen Kreislauf beschreibend, sich dem Westen näherte, erloschen die Streiflichter des Val d'Or wie eine trügerische Luftspiegelung. Noch einige Stunden, und dieselbe Dunkelheit, dieselbe Ruhe hüllte abermals die Einöden ein, wo all diese Ereignisse sich zugetragen hatten.
Eine Pflicht blieb noch zu erfüllen übrig: nämlich Don Antonio ein seiner würdiges Begräbnis zu geben. Pepe und der kanadische Jäger übernahmen diese Sorge, und seine Leiche wurde von ihren Armen bis auf den Gipfel der Pyramide getragen, wo sie ihre letzte Ruhestätte im Grab des indianischen Häuptlings fand. Die abergläubische Verehrung, die diesen Ort beschützte, sicherte sie vor der Entweihung der Menschen; der Wind, der über die Höhen hinstreicht, mußte den Leichengeruch weithin verwehen und den Toten der Witterung der wilden Tiere entziehen. Die Steine, die ihn deckten, schützten ihn hinlänglich gegen die Raubvögel.
Wie oft«, sagte der Jäger melancholisch, »bin ich nicht seit der Zeit, wo ich alt genug bin, ein Gewehr oder eine Büchse zu führen, in diesen feierlichen Augenblicken zugegen gewesen, wo man seine Toten zählt! Ach, was man auch dagegen sagen mag – der blutdürstige Sinn des Menschen wird niemals vergehen; mag er nun seinesgleichen auf dem unermeßlichen Ozean oder in den Einöden des festen Landes begegnen – immer ist es dasselbe Resultat: Blut, das das Meer rötet oder das der Sand trinkt! Und doch scheint Gott Erde und Meer nur so unendlich groß geschaffen zu haben, damit jedermann Platz darauf hat.«
»Ist das ein halber Vorwurf, den du mir machst?« fragte Fabian in schmerzlichem Ton. »Ich hatte den Mörder meiner Mutter verurteilt, und die Hand eines anderen ist nur meiner Gerechtigkeit zuvorgekommen, wirst du sagen. Ich hatte auch den Mörder meines Adoptivvaters verurteilt, wie ich deinen Mörder verurteilt haben würde; ein anderer hat ebenfalls die Vollstreckung des Spruchs auf sich genommen. Was ich getan habe, würde ich noch einmal tun«, fügte er mit Festigkeit hinzu. »Hätte ich wohl das Recht gehabt, dem einen wie dem anderen Verzeihung zu gewähren?«
»Deine Seele ist voll Bitterkeit, mein Kind«, sagte Bois-Rosé. »Nein, nein, ich würde ungerecht und unvernünftig sein. Wenn ich auch nicht selbst eine der deinigen gleiche Ansicht in dieser schrecklichen Sache ausgesprochen hätte, so würde ich doch nicht das Recht haben, dich anzuklagen. Gott bewahre mich davor, dein Verfahren zu tadeln! Es ist freilich wahr: Ich habe irgendwo in der Bibel gelesen: ›Die Rache ist mein, spricht der Herr.‹ Ich habe auch darin gelesen: ›Wehe dem, der in meiner Hand der Stab meiner Gerechtigkeit und die Rute meines Zorns sein wird!‹ Aber ... wir haben uns mit Unrecht die Rache des Herrn angemaßt.«
»Wir sind der Stab seiner Gerechtigkeit gewesen«, unterbrach ihn Fabian mit düsterem Ton;
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