Der Wanderchirurg
auswendig kannte. Dabei hatte seine Mutter selber nicht die Arbeit erfunden und galt als eine der größten Plaudertaschen weit und breit. Und nun saß er hier und musste Schafe hüten. Er nahm sein Gürtelmesser und begann lustlos an einem Ast herumzuschnipseln. Sollte er eine Lockpfeife für die Entenjagd schnitzen? Das hatte er noch niemals versucht. Ob er's konnte? Egal, er hatte sowieso nichts anderes vor, und die Schafe versorgten sich von alleine. Er setzte das Messer an und flitschte den ersten Span ab.
Nach einiger Zeit erinnerte ihn sein Machwerk weniger an eine Entenpfeife als an sein Ding zwischen den Beinen. Allein der Gedanke daran versetzte ihn schon in Erregung. Das war ihm in letzter Zeit häufiger passiert, und immer, wenn er sich unbeobachtet fühlte, hatte er heftig daran gerieben, so lange, bis ein überwältigendes Gefühl ihn erfasste und aus seinem Glied einige milchige Tropfen hervorspritzten. Beim Allmächtigen, tat das gut!
Er fragte sich, ob das die Fleischeslust war, die von den Priestern und den alten Frauen ständig verteufelt wurde, während seine rechte Hand tastend nach unten fuhr. Niemand hatte ihm je gesagt, was genau die Fleischeslust war. Irgendetwas unerhört Verwerfliches, das zwischen Mann und Frau geschah. Wenn das stimmte, umso besser: Er war schließlich allein. Also war dies keine Sünde? Er wusste es nicht. Und was man nicht wusste, konnte man auch nicht beichten. Eigentlich gut so. Er beschloss, sich das große Gefühl umgehend zu verschaffen, und drückte sich tief in die Sträucher, bis er sicher war, dass niemand ihn beobachten konnte.
»Meister Euklid, was lehrtet Ihr über das rechtwinklige Dreieck? Das Quadrat über einer Kathete ist gleich großder Fläche ... äh, wartet, ich hab's gleich ...« Ozo hielt erschreckt inne. Was war das für eine Stimme? Er spähte durch die Sträucher auf den Weg. Ein komischer Kauz kam daher, sichtlich bemüht, ein strammes Tempo vorzulegen. Ozo, der schon Soldaten hatte marschieren sehen, verzog abfällig den Mund. Der da hatte keine Ahnung vom schnellen Gehen, denn er bewegte sich viel zu verkrampft. Und statt ein kerniges Lied zu singen, rief er einen unsichtbaren Meister an. Was dem fehlte, war die lässige Geschmeidigkeit, mit der altgediente Landsknechte ausschritten. Von dem ging bestimmt keine Gefahr aus!
Allerdings, dieser Kiepenträger schien ein seltsamer Geselle zu sein. Eine Mischung aus Kräuterhexe und Mönch. Bei Gott! Jetzt legte er sich auch noch den Wanderstab quer über die Schulter, bog den Rücken durch und beschleunigte den Schritt. Er sah aus wie der Herr Jesus am Kreuz. Ganz so wie in der Kirche, die Ozo jeden Sonntag besuchen musste. Ein ungeheuerlicher Gedanke schoss in ihm hoch:
War das überhaupt ein Mensch? War das vielleicht ...? Jetzt machte der Wanderer eine weit ausladende Geste und hob erneut die Stimme: »Ich hab's, ich hab's! Das Quadrat über einer Kathete ist flächengleich dem Rechteck aus der Hypotenuse und der Projektion der Kathete auf die Hypotenuse, stimmt's?«
Ozo fing an zu zittern. Mit wem sprach der Unheimliche bloß? Er duckte sich noch tiefer ins Gesträuch. Gott sei Dank, der Wanderer mit den unbegreifbar gefährlichen Worten ging vorbei, ohne ihn bemerkt zu haben.
Für Ozo war klar, dass er hier keine Minute länger bleiben durfte; er musste nach Hause und den Vorfall melden.
Vitus saß am Wegrand und massierte seine Füße. An beiden Ballen saßen dicke, prallvolle Blasen, die scheußlich schmerzten. Gott war sein Zeuge, das Marschieren hatte er sich leichter vorgestellt!
Er blickte auf die Stiefel, die neben ihm lagen. Während der letzten Meile hatte er das Gefühl gehabt, auf einer Raspel zu gehen, so gnadenlos hatte sich das Leder an immer denselben Hautstellen gerieben. Er dachte daran, dass es noch fast neunzig Meilen bis Santander waren, eine Strecke, die ihm genauso lang erschien wie die Entfernung zum Mond. Seine Marschleistung schätzte er auf kümmerliche sechs Meilen, und die Zeit, die er dazu gebraucht hatte, kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Dabei hatte er sich ständig abgelenkt, indem er die griechischen Philosophen und Mathematiker zitierte ... Seufzend erhob er sich. Seine brennenden Füße erinnerten ihn an seine Stiefel, die noch im Gras lagen. Er nahm sie auf und beschloss, fürs Erste barfuss weiterzugehen. Dann ergriff er den Wanderstab und legte ihn sich wieder quer über die Schultern. So konnte er beim Gehen die Arme ausbreiten und die Hände
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