Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
Vom Netzwerk:
Verstand, unserer Seele, unserer Kraft Dein Angesicht erkennen und dass Deine unendliche Gnade uns zu Deiner Göttlichkeit führt. Amen.« Es war ein Gebet aus dem 8. Jahrhundert, das ursprünglich aus England kam. England ... Wieder kreisten Vitus' Gedanken um das, was ihn dort erwartete.
    Würde er dort das Geheimnis seiner Herkunft lösen? Plötzlich legte sich ein Arm seine Schulter. »Es muss schlimm sein, Vater und Mutter nicht zu kennen«, sagte Emilio.

    Am Nachmittag fuhren sie an mehreren großen, noch unbestellten Feldern vorbei, deren dunkle Erde sich durch die Sonne grau zu verfärben begann. In einiger Entfernung entdeckten sie elf Gestalten, die sich, nebeneinander gehend, langsam über den Acker auf sie zu bewegten. Unter ihnen waren sechs Kinder und mehrere Halbwüchsige. In ihrer Mitte rollte ein klappriger Karren. »Es sind Verwandte von mir!«, freute sich Emilio. »Sie bilden eine Kette und lesen die Steine auf, die jeden Winter durch den Frost nach oben gedrückt werden.« Vitus sah, dass sie sich von Zeit zu Zeit bückten und Steine, Wurzeln und Geröll auf den Wagen warfen. Ab und zu blitzte ein Messer auf, wenn eine der unausrottbaren Disteln ausgestochen wurde.
    »Je besser der Acker vorbereitet ist, desto leichter das Pflügen«, erklärte Emilio. »He, ihr da! Ihr seid spät dran dieses Jahr.«
    »Auch der Frühling ist dieses Jahr spät dran.« Ein breitschultriger, vierkant gebauter Mann schob sich vor und grinste fröhlich. »Oder hat sich das noch nicht bis Punta de la Cruz herumgesprochen?« Er drehte sich um und winkte die anderen heran. Dann streckte er die Rechte vor. »Ich bin Carlos Orantes.«
    »Ich bin Vitus.«
    Orantes packte Vitus' Hand und bearbeitete sie kraftvoll wie einen Pumpenschwengel. Dann stellte er die Mitglieder seiner Familie vor: »Ana, meine Ehefrau. Tritt heran, Weib.«
    »Guten Tag, Vitus«, sagte eine gutmütig aussehende, rundliche Frau, die sich noch rasch die Hände an der Schürze abgewischt hatte.
    »Dann haben wir da Antonio und Lupo, meine beiden Ältesten.« Orantes deutete auf zwei Jungen, die einander aufs Haar glichen. »Wie du unschwer erkennen kannst, hat Ana, mein treues Weib, es hier doppelt gut gemeint.« Er zwinkerte fröhlich. »Hier folgt unsere Nina, die schon heute viele Verehrer hat.«
    Vitus blickte in ein Mädchengesicht von sanfter Schönheit. Die Kleine war vielleicht vierzehn Jahre alt.
    »Nun zum jungen Gemüse«, fuhr Orantes zielstrebig fort, denn was er einmal angefangen hatte, das führte er auch zu Ende. »Conchita, Bianca, Pedro, Maria, Manoela, ja auch du, Gago, sagt Vitus »guten Tag«.«
    Ein kleiner Junge, Vitus schätzte ihn auf fünf, trat als Letzter vor, wobei er den Kopf krampfhaft gesenkt hielt.
    »Gut-glitten T-t-tag«, nuschelte er in Richtung Erdboden.
    »Gago, mein Söhnchen«, sprach Orantes mit gespielter Strenge, »hab ich dir nicht beigebracht, dass man den Leuten ins Gesicht schaut, wenn man sie begrüßt? Komm, versuch es gleich noch mal!«
    Ängstlich blickte der Kleine auf. Der Grund für seine Unsicherheit wurde offenbar: Seine Oberlippe war unterhalb der Nase von einer Hasenscharte entstellt, die dem kleinen Gesicht etwas Fratzenhaftes verlieh. »Gutgut-ten T-t-tag.« Gagos Mund arbeitete heftig bei dem Versuch, das Stottern zu vermeiden.
    »Bravo, das war schon viel besser!«, strahlte der Papa, wobei er seinem Jüngsten liebevoll eine Kopfnuss verpasste. »Warum nicht gleich so? Und weil wir so jung nicht wieder zusammenkommen, sollten wir jetzt eine kleine Pause machen und ein Schwätzchen halten.«
    Offensichtlich war Orantes auch ein Mensch, der aus jeder Situation das Beste machte.
    Kurz darauf saßen sie alle gemeinsam im Gras und tauschten Neuigkeiten aus, während Isabella, die etwas abseits angepflockt war, sich zufrieden aus einem umgehängten Sack versorgte, den Emilio zuvor mit Haferschrot gefüllt hatte.
    „Komm, Vitus, bis San Cristobal ist es noch weit«, sagte der Fuhrmann schließlich und klopfte sich den Staub von der Hose. »Ich möchte noch im Hellen dort ankommen.«
    „Recht so«, bekräftigte Orantes, der sich ebenfalls erhob. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Und wie um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, nickte seine Familie einträchtig: »Gott sei mit euch!«
    »Gott sei mit euch!«, antworteten beide, und Isabella zog den Karren wieder auf die Straße.

    Der nächste, weitaus schlimmere Anfall kam zwei Stunden vor Sonnenuntergang.
    Wie mit stählernen

Weitere Kostenlose Bücher