Der Wanderchirurg
rumtreibt.«
Vitus betrachtete die friedliche Landschaft, die gemächlich an ihnen vorbeirumpelte. »Es gibt keine Hexen und auch keine Hexer«, entgegnete er schließlich.
»Hast du eine Ahnung!« Aufmunternd tippte der Alte mit seiner Gerte gegen Isabellas Hinterhand, denn vor ihnen lag eine längere Steigung. »Jeder weiß, dass es sie gibt. Und nur ein toter Hexer ist ein guter Hexer, so wahr ich Emilio Ragoza heiße und aus Punta de la Cruz komme. Kannst im Übrigen ruhig Emilio zu mir sagen, alle tun's in dieser Gegend.«
»Ihr kommt, äh ... du kommst aus Punta de la Cruz?«
Vitus spürte ein vertrautes Gefühl.
"Richtig. Bin auf dem Wege nach San Cristobal, um eine Ladung Brennholz zu holen, unseres im Dorf ist kaum abgelagert und noch zu feucht.«
" Kennst du vielleicht den Abt Hardinus? Er war früher öfter in Punta de la Cruz.«
„Den Abt Hardinus? Ich erinnere mich an einen Mönch namens Hardinus, aber es muss Jahre her sein, seit er das letzte Mal im Dorf war.« Der Alte schlug mechanisch das Kreuz. »Ich weiß, dass die Ältesten von uns ihn sehr verehren, denn es gab Zeiten, da hatten wir keinen Priester, und Vater Hardinus kam jede Woche einmal vorbei und kümmerte sich um unser Seelenheil. Als ich klein war, brachte er mir und ein paar anderen sogar ein bisschen Lesen und Schreiben bei. Doch das ist Vergangenheit, und wir werden mit jedem Jahr weniger im Dorf. Die Jungen zieht's halt hinaus.« Wieder schlug er das Kreuz, diesmal bewusst und langsam. »Wie geht es ihm, er muss doch bald hundert Jahre alt sein?«
»Er ist tot.« Vitus wunderte sich, wie leicht ihm die Antwort über die Lippen kam. »Er starb friedlich, denn er hatte sein Haus bestellt. Jeder wusste, was er zu tun hatte - auch ich.«
»Du gehörst zum Kloster?« Etwas wie Bewunderung erschien in Emilios Augen, er wandte sich nach vorn:
»Hast du das gehört, Isabella? Das Söhnchen hier ...«, er unterbrach sich, »wie heißt du eigentlich?«
»Vitus.«
»... also dieser Vitus, den du hier ziehst, mein Mädchen, kommt von Campodios und ist sicherlich ein hochgelehrter Mensch, der sogar lesen und schreiben kann, stimmt's, Söhnch ... äh, Vitus?«
»Nun ja, natürlich. Aber ich gehöre nicht mehr zum Kloster.«
»Aha. Und was willst du in diesem England, wo du doch angenehm auf Campodios leben könntest und immer satt zu essen hättest?«
Vitus zögerte, doch er sah keinen Grund, Emilio nicht die Wahrheit zu sagen. »Ich will herausfinden, wie meine Eltern heißen und wo sie leben.«
Der Alte starrte ungläubig. »Wie? Du weißt nicht, wer deine Eltern sind?«
»Es hört sich seltsam an, aber es stimmt. Der einzige Anhaltspunkt, den ich habe, ist ein altes Familienwappen.«
»Ein Familienwappen? Donnerwetter! Und du glaubst, das könnte aus diesem England sein?«
»Wer weiß.«
Wieder fuhren sie schweigend dahin. Jeder hing seinen Gedanken nach. Vitus fragte sich, was ihn in England erwartete.
Er wusste noch immer nicht viel von diesem Land, denn er hatte kaum Zeit gefunden, etwas darüber in Erfahrung zu bringen. In den letzten Wochen hatte Campodios einem brodelnden Wasserkessel geglichen. Kein Tag war vergangen, an dem nicht etwas Außergewöhnliches den Klosteralltag durchbrochen hätte. Nach dem Tod des Hardinus hatte man seinen Leichnam hergerichtet und in der kleinen Klosterkapelle aufgebahrt, die der Verstorbene so geliebt hatte. Gaudeck, Thomas, Cullus und Vitus hatten in der darauf folgenden Nacht die Totenwache am Katafalk gehalten, jeder eine Kerze in der Hand und die alten Choräle singend. Am anderen Tag hatte Pater Gaudeck eine Messe zelebriert und Pater Cullus das heilige letzte Sakrament verabreicht. Hunderte von Trauernden, Mönche ebenso wie Menschen aus der nahen und fernen Umgebung, waren gekommen, um dem alten Abt Lebewohl zu sagen.
Danach hatte Cullus die Tränen nicht mehr
zurückhalten können. Schnüffelnd und sich die Nase wischend hatte er aus den Oden des Horaz zitiert: »Multis ille bonis flebilis occidit!« und für die Pueri oblati die Übersetzung gleich mitgeliefert: »Er starb, von vielen Guten beweint!«
Als einer der Letzten war Vitus an den Sarg herangetreten und hatte ein Gebet gesprochen, von dem er wusste, dass der alte Abt es besonders geliebt hatte:
»Ewiges Licht, scheine in unsere Herzen, Ewige Güte, erlöse uns von dem Bösen,
Ewige Weisheit, vertreibe das Dunkel unserer Unwissenheit,
Ewige Trauer, habe Gnade mit uns, dass wir mit unserem Herzen, unserem
Weitere Kostenlose Bücher