Der Wanderchirurg
in dem Gelass. Jeder der Männer hatte Stroh um sich herum aufgehäuft, um sich vor der Kälte zu schützen. Wie lebende Garben lagen sie da, eng an die Wände gepresst. In der Mitte des Raums war eine Fläche frei geblieben. Hier trat das nackte Gestein hervor. Rechts an der hinteren Wand lagen zwei jüngere Männer eng beieinander. Sie schienen verlegen, als Vitus sie musterte. In einem von ihnen glaubte er den Kicherer der vergangenen Nacht zu erkennen. In der hinteren Ecke links kauerten drei Männer mit dunklen Augen, die seinen Blick nicht erwiderten. Sie kapselten sich offenbar ab. Das Hervorstechendste an ihnen war ihre äußerliche Ähnlichkeit. Alle drei hatten eine kräftige Nase, schwarze Haare und olivfarbene Haut. Schließlich betrachtete er sich zum ersten Mal selbst. Zwischen seinen Stiefeln entdeckte er einen eisernen Ring, der im Felsboden eingelassen war. Das Mittelstück einer Kette, die aus neun starken Gliedern bestand, war durch diesen Ring gezogen worden. Jeweils vier Glieder führten links und rechts davon zu zwei eisernen Manschetten. Und in den Manschetten steckten - seine Hände. Man hatte ihn in Ketten gelegt.
Jetzt war auch klar, warum seine Handgelenke so schmerzten. Die Haut war beim Anschmieden versengt worden. Zorn und Verzweiflung packten ihn.
»Was soll das?«, rief er laut. »Ich verlange, dass man mich augenblicklich losmacht.« Er wollte aufspringen, doch die Kette riss ihn zurück. Einen Augenblick lag er ruhig. Dann bäumte er sich abermals auf. »Heee! Ich habe nichts verbrochen! Das Ganze ist ein Irrtum! Ich will raus!
Ich ...«
»Lass gut sein«, beschwichtigte der Magister. »Außer uns hört dich sowieso keiner.«
»Aber ich bin wirklich unschuldig!«
»Dass du unschuldig bist, glaub ich dir gerne. Alle in diesem Kerker sind es.«
»Ich will wissen, warum ich hier festgehalten werde.«
»Das erfährst du noch früh genug, und zwar bei der Befragung durch den Inquisitor. Vermutlich wird er dich der Häresie anklagen, der Ketzerei also. Das ist immer am einfachsten. Denn Häresie schließt jedes Verhalten ein, das Gott nicht gefällt. Und was dem Herrgott nicht gefällt, ist tausendfach interpretierbar.«
Vitus beruhigte sich mühsam. »Warum sind die anderen hier?«
»Nach allem, was mir Habakuk, der kleinste der drei Juden, erzählt hat, verhält es sich bei ihnen so ...«, der schmächtige Mann häufelte noch etwas Stroh um sich auf, denn der Morgen war kalt, »Habakuk, David und Solomon sind Brüder. Sie stammen aus der Familie Hebron, die ursprünglich in Murcia saß, das war in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals wurden alle Hebrons gezwungen, sich taufen zu lassen. Aber heimlich hielten sie an ihrem Glauben fest. Man schimpfte sie Marranen, und die Inquisition verfolgte sie. Deshalb flüchteten sie anno 1492 übers Meer und siedelten sich auf der Baleareninsel Menorca an.«
Der Magister hielt inne, um einen Strohhalm, der ihn im Rücken kratzte, zu entfernen. »Heute betreiben Habakuk, David und Solomon eine Schiffsausrüsterei dort. Ihr Fehler war es, Anfang des Jahres aufs Festland zurückzukommen, um hier Geschäfte zu machen. Wie du vielleicht weißt, ist es Juden in diesem Land verboten, Handel zu treiben oder ein Handwerk auszuüben. Wie dem auch sei, die Häscher unserer heiligen Mutter Kirche schnappten sie und brachten sie hierher. Die drei sind schon mehrmals kurz verhört worden. Sie hoffen, der Einfluss ihrer Familie reicht so weit, dass man sie bald laufen lässt.«
»Warum tragen sie keine Ketten?«
»Vermutlich, weil ihre Familie die Inquisiton mit einer kleinen Zuwendung unterstützt hat.«
»Und die zwei in der anderen Ecke?«
»Felix und Amandus. Von allen in dieser Zelle sind sie wahrscheinlich am glücklichsten. Sie waren ursprünglich in verschiedenen Zellen untergebracht, worunter sie sehr litten.
Irgendwie haben sie es dann geschafft, zusammengelegt zu werden. Seitdem sind sie hier.« Er beugte sich zu Vitus vor, denn das, was er jetzt sagte, war nicht für ihre Ohren bestimmt. »Sie legen besonderen Wert auf körperliche Reinigung. Ein bisschen übertrieben, wie ich finde, aber es soll ja typisch sein für Männer, die einander in, äh ... widernatürlicher Liebe zugetan sind. Sie stöhnen zwar wie alle unter den Zuständen hier, trotzdem sind sie glücklich. Wie du noch bemerken wirst, kümmert sich Amandus, der Kleinere, mit großer Hingabe um Felix. Er fordert ihn ständig auf, sich zu schonen, gibt ihm
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