Der Wanderchirurg
sagst es.« Der Magister kratzte den letzten Rest aus seinem Teller und band sich das Kopftuch um. »Mein Gehirn braucht diese Übung, sonst rostet es ein. Gilt die Wette?«
»In Ordnung.«
»Du nennst die genaue Position, und ich sage dir, was auf dem Stein ist.«
»Und was bekomme ich, wenn du's nicht schaffst?«
»Für jeden Fehlversuch bekommst du von mir eine Golddublone. Und für jede richtig erkannte Zeichnung bekomme ich eine von dir.«
Vitus lächelte schief. »Du musst ein reicher Mann sein. Ich für meinen Teil habe nicht mal mehr einen kupfernen Maravedi. Aber auch das hast du ja schon erkannt.« Der Magister lachte schallend. »Ich bin so arm wie du! Aber vielleicht sitzen wir ja nicht ewig in diesem Loch. Stell dir vor, du wärst bis über beide Ohren verschuldet, aber dafür in Freiheit. Ist das nicht ein herrlicher Gedanke!« Vitus lachte mit.
»In der Tat! Fangen wir an.« Er entdeckte im hinteren Teil der Zelle über den Köpfen von Felix und Amandus ein hingekritzeltes Datum:
16. August A. D. 1575
Er maß mit den Augen die Position des Steins. »Was steht an der Wand gegenüber in der fünfzehnten Reihe von unten, elfter Ziegel von rechts?«
Das Gesicht des Magisters konzentrierte sich unter dem Tuch, dann kam die Antwort: »Das ist leicht, da steht ein Datum. Es lautet »16. August A. D. 1575«. Wenn du allerdings genau hinsiehst, wirst du bemerken, dass noch etwas davor steht, nämlich das Wörtchen in.«
»Stimmt, aber warum fandest du die Aufgabe leicht?«
»Es ist der Tag, an dem ich in dieser traulichen Herberge Unterschlupf fand, deshalb auch das in vor dem Datum. Ich war damals ganz allein in der Zelle. Drei oder vier Wochen lang war ich angekettet, genau dort, wo du heute sitzt. Dann hatte ich Glück: Nunu war auf dem Markt in Porta Mariae beim Kauf einer Schweinehälfte betrogen worden, und ich konnte ihm einen juristischen Rat geben. Daraufhin zeigte er so etwas wie Dankbarkeit und nahm mir die Eisen ab. Ich war überglücklich, die Welt war ein wenig erträglicher geworden.« Der Magister wischte eine Fliege fort, die unter das Tuch krabbeln wollte.
»Als Erstes versuchte ich, Kontakt zu anderen Gefangenen aufzunehmen. Deshalb klopfte ich sämtliche Wände ab und hoffte auf ein Echo. Ich bekam's auch. Von Nunu, der plötzlich hinter mir stand und mir eine verpasste. Egal, dieser Ziegel jedenfalls stellte sich als locker heraus. Man kann ihn leicht entfernen, wenn man's weiß.«
Die Fliege war hartnäckig. Abermals musste der kleine Mann sie verscheuchen, dann bekam seine Stimme einen fast feierlichen Klang: »Ich habe diesen Ziegel zu meinem Schicksalsstein erklärt. Er ist für mich ein Symbol, dass alles seine zwei Seiten hat. Deshalb habe ich auf seiner Vorderseite mein Einlieferungsdatum eingeritzt.«
»Und weiter?« Vitus verstand nicht ganz.
»Und auf der Rückseite kratze ich irgendwann mein Entlassungsdatum hinein, und zwar mit dem Wörtchen ex davor. Künftige Insassen erfahren auf diese Weise, dass man hier nicht nur eingelocht wird, sondern eines Tages auch wieder rauskommen kann.«
»Ich hoffe, der Stein bringt dir Glück.«
»Wir werden's sehen. Doch jetzt mach weiter, bin gespannt, wie gut mein optisches Gedächtnis arbeitet.«
»Linke Wand, dritte Reihe von oben, vierter Stein von links.«
»Mors non curat muneret. Ein lateinischer Spruch, der so viel bedeutet wie: Der Tod lässt sich durch Geld nicht abwenden.« Sie trieben das Spiel noch eine ganze Weile, und jedes Mal wusste der Magister die richtige Antwort. Schließlich lehnte er sich zufrieden zurück: »Siehst du, mein Grips funktioniert noch. Siebzehn Golddublonen schuldest du mir. Kannst sie mir im späteren Leben geben.«
Die Tage vergingen in ewiger Gleichförmigkeit. Jeden Morgen ritzte Vitus einen Strich in den Felsboden zu seinen Füßen ein. Und jeden Morgen zählte er die Striche nach: dreiundvierzig waren es heute. Das entsprach dreiundvierzig Tagen voller Warten und Hoffen, Ängsten und Schikanen ...
Und dreiundvierzig Nächten. Nächten voller Einsamkeit, Sehnsucht und Verzweiflung. Es waren dunkle Stunden, in denen er nur das Schnarchen der anderen hörte oder, immer dann, wenn sie glaubten, dass alle schliefen, das unterdrückte Keuchen und Flüstern von Amandus und Felix. Er erinnerte sich noch genau an eine Nacht, in der ihr Liebesgeflüster von einem scharrenden Geräusch unterbrochen wurde. Es war von der Klappe in der Kerkertür gekommen. Augenblicklich waren sie verstummt,
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