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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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zuvorzukommen, erkläre ich dir lieber gleich, warum ich mir die Augen verbinde. Allerdings gibt es darauf zwei Antworten: eine physische und eine metaphysische. Welche möchtest du zuerst hören?«
    »Ich verstehe nicht ...«
    »Fangen wir mit der physischen an.« Der Magister war offenbar froh, einen Zuhörer gefunden zu haben: »Wie du sicher bemerkt hast, herrscht in diesem Loch ein nahezu unerträglicher Gestank nach menschlichen Ausscheidungen. Die Ursache dafür ist der Abtritt hier rechts neben mir in der Ecke. Ich befürchte, dass in den Gestankspartikeln Miasma enthalten ist, das meine Augen angreifen könnte. Du musst wissen, ich habe sehr empfindliche Augen.«
    »Miasma?« Vitus, der diesen unsichtbaren Stoff als Ursache der Pest kannte, wunderte sich.
    »Genau. Krank machende Materie, die über die Pupillen ins Hirn dringt und Wahnsinn verursacht.«
    Vitus hatte von derlei Gefahren noch nicht gehört.
    »Warum machst du die Augen nicht einfach zu?«, fragte er.
    »Wer mag schon den ganzen Tag mit geschlossenen Augen verbringen!«, fragte der Magister zurück.
    »Außerdem«, fuhr er fort, »hält Hanf, und dieses Tuch ist aus Hanf, das Miasma physisch besser zurück als die dünne Haut eines Augenlids.«
    »Und der metaphysische Grund?«
    »Oh, der metaphysische Grund sind die Bilder, die auf diese Weise vor meinem geistigen Auge entstehen. So kann aus einer Kerkermauer die Felsenküste meiner Heimat werden, aus dem Strohsack, auf dem ich liege, eine blühende Wiese, aus einem schmutzstarrenden Häftling eine verführerische Jungfrau ...«
    »Jetzt verstehe ich. Du benutzt deine Phantasie, um dich gewissermaßen zu befreien.«
    »Wann immer ich will«, nickte der Magister. »Das Gute daran ist, ich kann mit offenen Augen träumen, und das Miasma vermag mir trotzdem nichts anzuhaben! Aber ich habe noch etwas anderes festgestellt.«
    »Was denn?«
    »Dass ein Tuch vor dem Kopf die Beobachtungsgabe erheblich schärft: Erst wenn du dir die Augen bedeckst und versuchst, die Besonderheiten an Menschen und Gegenständen zu beschreiben, merkst du, wie wenig du vorher darauf geachtet hast. Deshalb bemühe ich mich, die Dinge immer genau zu erfassen, um sie dann - mit verbundenen Augen - richtig wiedergeben zu können.«
    Wie um sich selbst zu bestätigen, nickte der schmächtige Mann abermals. »Außerdem ist es eine gute Übung, um hier nicht zu verblöden. Nehmen wir zum Beispiel dich: Du wurdest letzte Nacht in unsere Zelle gestoßen und bliebst reglos liegen. Ich fragte mich, ob du tot seiest, denn du gabst eine geraume Weile keinen Muckser von dir. Dann fiel mir ein, dass ein Toter im Kerker keinen Sinn macht, also musstest du noch leben. Ich sprach dich an, und siehe da, du lebtest!«
    »Mir ging's hundsmiserabel.«
    »Das hab ich gemerkt, hast gespuckt wie ein seekranker Fisch.« Der Magister grinste. »Heute Morgen dann habe ich dich genau betrachtet: Du bist jung, um die zwanzig Jahre alt, das sagt mir dein Gesicht. Deine Hände sind gepflegt, deine Fingernägel bemerkenswert sauber. Das heißt, du gehst keiner körperlichen Arbeit nach. Du könntest von Adel sein, denn unter deinem Hemd trägst du einen weinroten Stoff mit einem seltsamen, kreisrunden Wappen. Ich kenne das Wappen nicht, daraus schließe ich, dass du zumindest nicht aus der Gegend von La Coruna bist. Wahrscheinlich kommst du nicht einmal aus Spanien, immer vorausgesetzt, es ist dein Wappen. Deiner adeligen Abstammung entgegen steht allerdings der billige Mantel, den du trägst. Die Kapuze ist abgetrennt worden, sodass er ursprünglich mal eine Kutte gewesen sein mag. Vielleicht hast du ihn einem Mönch abgekauft? Doch das Bemerkenswerteste an deinem Mantel ist der aufgeschlitzte Saum. Ich vermute, du hattest Münzen darin eingenäht. Wahrscheinlich hat man dich überfallen und es dir geraubt. Das Einzige, was man dir gelassen hat, sind zwei Steine. Ich muss zugeben, ich habe keine Idee, wozu sie gut sein könnten.«
    Vitus spürte am Oberschenkel den Druck von Emilios Eisensteinen. Es war ein gutes, vertrautes Gefühl. Auch der Schlüssel zu dem Werk De morbis hing noch um seinen Hals. »Von einer Kiepe und einem Stecken weißt du nichts?«, fragte er.
    »Eine Kiepe und ein Stecken? Nein.« Der Magister löste das Kopftuch und blinzelte. »Was hat es mit ihnen auf sich?«
    »Das ist eine lange Geschichte, zu lang, um sie jetzt zu erzählen.« Vitus blickte in die Runde. Außer ihm und dem Magister befanden sich fünf zerlumpte Gestalten

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