Der Wanderchirurg
und Vitus hatte ihre Angst gespürt, eine Angst, die den ganzen Raum füllte. Kurz darauf hatten sich leise Schritte entfernt ... Trübselig kratzte sich Vitus den Rücken. Er nahm dazu das Löffelende, das ihm zum Einritzen diente. Und was war mit ihm? Niemand hatte ihm gesagt, warum er einsaß. Keiner hatte nach ihm gefragt. Es schien, als hätte es einen Vitus von Campodios niemals gegeben. Das tägliche Einerlei ging sogar schon dem Magister auf die Nerven. Jeder kannte inzwischen die Gewohnheiten der anderen wie seine eigenen. Vitus wusste, wie seine Mitgefangenen aßen, schliefen, redeten, lachten, fluchten, weinten, hofften, beteten. Ja, er wusste sogar, wie jeder Einzelne von ihnen seine Notdurft verrichtete. Nicht, weil er sich dafür besonders interessiert hätte, sondern einfach, weil er gar nicht anders konnte, als es mitzuverfolgen. Amandus und Felix waren dabei stets in größter Verlegenheit, was Vitus dazu bewog, jedes Mal wegzuschauen. Doch was seine Augen nicht sahen, nahmen Nase und Ohren umso intensiver wahr.
Die Juden hatte eine eigene Methode entwickelt: Immer, wenn einer der drei auf den Abtritt musste, bat er die beiden anderen, ihn mit ihrem Körper abzuschirmen. So halfen sie sich gegenseitig, die Intimsphäre zu wahren. Der Magister war der Souveränste von allen. Er hockte nicht, er thronte. Freundlich unterhielt er sich während seines Geschäfts weiter, gerade so, als wäre eine unsichtbare Wand zwischen ihm und den anderen.
Und er selbst, Vitus, hatte es von allen vielleicht am schwersten, denn zu der Peinlichkeit des Vorgangs kam bei ihm die Behinderung durch die Kette. Sie engte ihn so ein, dass er nur dann mit dem Gesäß an den Kübel heranreichte, wenn er sie mit ausgestreckten Armen bis zum Äußersten fortzog. Der Magister musste dazu jedes Mal Platz machen, was er stets mit dem empörten Ausruf
»Ja musst du etwa schon wieder? Mir bleibt auch nichts erspart!« kommentierte. Erst später war Vitus dahinter gekommen, dass der kleine Gelehrte damit die anderen ablenkte.
Er war in den letzten Wochen ein guter Freund geworden. Abermals blickte Vitus auf die dreiundvierzig Striche zu seinen Füßen. Die Kette klirrte. Mechanisch zerdrückte er eine Wanze auf dem Knie. Er hätte es ebenso gut lassen können, denn es gab Hunderte, vielleicht Tausende von ihnen im Kerker. Sie waren einfach überall. In den ersten Tagen hatten ihre Bisse ihn noch höllisch gejuckt, doch mit der Zeit war es besser geworden. Interessiert hatte Vitus registriert, dass sein Körper kaum noch darauf reagierte. Wie bei den anderen hatte bei ihm der Gewöhnungseffekt eingesetzt. Dann, mit fortschreitender Jahreszeit, hatten die Fliegen Einzug gehalten. Mit jedem Tag waren es mehr geworden. Schließlich waren sie so zahlreich, dass im Kerker ein ständiges Summen herrschte. Zwar bissen sie nicht wie die Wanzen, doch waren sie auf andere Weise genauso widerlich: magisch angezogen von der Quelle des Gestanks, umkreisten sie den Abtritt, setzten sich immer wieder darauf, tauchten ihre Rüssel in die Fäkalien, flogen schließlich auf, um sich irgendwo erneut niederzulassen - nicht selten auf einem Gesicht. Anfangs hatten die Häftlinge noch nach ihnen geschlagen, aber bald darauf hatten sie es aufgegeben. Die Biester waren einfach zu schnell. Auch jetzt am Morgen klang es schon wie in einem Bienenstock, doch keiner nahm es mehr wahr. Jeder war mit seinen Gedanken irgendwo da draußen...
Vitus sah, dass Amandus ein Stück Brot in der Hand hielt, das er spielerisch immer wieder verschwinden ließ. Jedes Mal, wenn es fort war, griff er Felix ins Hemd und holte es von dort wieder hervor. Obwohl Vitus nicht die kleinste Bewegung entging, hatte er keine Ahnung, wie Amandus das anstellte.
»Wie machst du das bloß?«, fragte er.
Amandus spitzte schelmisch die Lippen: »Das werde ich dir nicht auf die Nase binden, Süßer! Nimm an, es ist Zauberei.«
»Was soll die Geheimniskrämerei?«
»Komm, das musst du verstehen.« Amandus' Ton wurde versöhnlich. »Wer Zaubertricks beherrscht, verrät sie nicht. Zauberer leben nun mal davon, dass die Zuschauer nicht wissen, wie sie's machen.«
»Tja, und wenn sie's niemandem verraten, kommt mancher schnell auf die Idee, dass es bei ihnen nicht mit rechten Dingen zugeht - und nennt das Ganze Hexerei«, mischte sich der Magister ein.
»In der Tat ist es das, was man uns vorwirft«, sagte Felix. Es war eines der ganz wenigen Male, wo er sich an der Unterhaltung beteiligte.
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