Der Wanderchirurg
komplizierten Bereiche der Cirurgia und der Kräuterheilkunde eingeführt hatte und wie im Laufe der Jahre sein Wissen größer und größer geworden war. Der Magister erwies sich als guter Zuhörer. Er unterbrach selten und wenn, dann nur, um einen scheinbaren Widerspruch zu klären: »Es war also alles wunderschön im Kloster«, sagte er einmal, »ich frage mich nur, warum du es verlassen hast.«
»Es war gar nicht so »wunderschön«, wie du vermutest. Gerade in den letzten Monaten ging mir das Leben dort mehr und mehr auf die Nerven, obwohl ich als Puer oblatus viel mehr Freiheiten hatte als ein Mönch.«
»Ist man als Mönch denn unfrei?«
»In gewisser Hinsicht schon. Wer Mönch ist, ist es in der Regel sein Leben lang. Er unterwirft sich einer strengen Disziplin: Die Tagesabläufe sind immer gleich, Lachen ist verboten, Schweigen ist Pflicht. Alle Dinge müssen mit großem Ernst verrichtet werden. Der Blick soll zu Boden gerichtet sein, die Hände sind stets in den Ärmeln der Kutte zu halten, es sei denn, man braucht sie zum Beten oder zur Arbeit.«
»Hm«, machte der Magister.
»Dreißig, vierzig, vielleicht sogar fünfzig Jahre lang betend, schweigend und sich selbst kasteiend in einem Kloster zu sitzen, das ist nichts für mich.«
»Verstehe, und deshalb bist du eines Tages klammheimlich verschwunden.«
»Ganz im Gegenteil. Ich ging mit dem Einverständnis von Abt Hardinus, der mir zur Aufgabe gemacht hatte, meine wahre Identität zu finden.« Vitus erzählte, wie der Abt noch kurz vor seinem Tod das golddurchwirkte Wappen interpretiert hatte, berichtete von seinem Aufbruch aus dem Kloster, erwähnte die eingenähten Escudos, die Kiepe mit dem darin versteckten Buch De morbis und die vielen kleinen und großen Begebenheiten auf seiner Wanderung. Schließlich endete er bei seinem Treffen mit dem räuberischen Zwerg. Nach einer Weile sagte der Magister sinnend: »Der Abt Hardinus muss ein kluger Kopf gewesen sein, alles, was er aus dem Wappen herausgelesen hat, ist zwar nicht sicher, aber in hohem Maße wahrscheinlich. Ich persönlich glaube auch, dass England dein Ziel sein sollte - für den Fall, dass sie dich irgendwann hier rauslassen. Ich hoffe nur, dass ich dann an deiner Seite sein werde, schließlich schuldest du mir ein erkleckliches Sümmchen.«
Er blinzelte. »Den Zwerg übrigens kann ich in gewisser Weise verstehen. Überleg doch mal: Wovon soll so ein Gnom leben, wenn nicht vom Klauen? Es ist die Intoleranz unserer Gesellschaft, die ihn dazu zwingt.«
„Nimmst du ihn etwa in Schutz?«
»Das nicht gerade. Rechtlich gesehen war's natürlich eine hübsche Latte von Tatbeständen: Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl, um nur einiges zu nennen. Aber bedenke: Ein Winzling wie er hat's schwer in dieser Welt. Keiner gibt ihm Arbeit. Keiner mag ihn. Keiner nimmt ihn ernst. Hand aufs Herz: Hast du dich ihm gegenüber normal verhalten?«
»Ehrlich gesagt, nein. Ich war ziemlich befangen. Er sah einfach zu unmenschlich aus mit seinen winzigen Augen und dem Fischmündchen. Und dann noch dieser enorme Buckel.« Vitus deutete die Ausmaße an. »Dass er mir mein Geld gestohlen hat, nehme ich ihm nicht einmal so übel. Viel schlimmer ist, dass er mich der Inquisition ausgeliefert hat. Manchmal denke ich, ich könnte ihn töten.«
»Sag so etwas nicht.« Der Magister hob abwehrend die Hand. »Das klingt mir zu sehr nach Kopf-ab-Gerechtigkeit. Davon haben wir in diesem Land schon genug. Aber so langsam wird mir einiges klar: Der Zwerg hat dich wahrscheinlich bei der Inquisition als Häretiker denunziert. Dann hat er den Herren »zum Beweis« seiner Ehrlichkeit eine oder zwei Goldstücke gegeben, mit dem Hinweis, er habe sie bei dir gefunden. Den Rest hat er natürlich behalten. Mag sein, dass er auch durchblicken ließ, du hättest an einem geheimen Ort noch mehr versteckt. Das wäre für ihn die Garantie gewesen, dass sie dich hier behalten, denn sicher weiß er, dass die Inquisitoren einen Gefangenen so lange ausquetschen, bis sie das letzte Gold aus ihm herausgeholt haben. Ein überaus tückischer Plan, wenn sich wirklich alles so zugetragen hat. Hoffen wir trotzdem, dass du bald als freier Mann dort rausgehen wirst.«
Er nickte mit dem Kopf in Richtung Kerkertür. Wie auf ein Stichwort öffnete sie sich.
Nunu hinkte herein und baute sich auf. »Los, Rechtsverdreher, zum Verhör!« Er packte den schmächtigen Mann, hob ihn auf die Beine und schob ihn, ehe er sich's versah, hinaus.
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