Der Wanderchirurg
Stoffarm vor die Brust und stieß ihn zurück in Richtung Wand. Jetzt musste der andere ins Licht blicken. Martinez beabsichtigte, diesen Vorteil zu nutzen. Was du kannst, kann ich schon lange!, dachte er grimmig. Er tat so, als wolle er nach den Genitalien seines Gegners treten, doch täuschte er die Bewegung nur an, der Mann wich zurück, Martinez wollte erneut einen Schwinger ansetzen, aber er war zu langsam. Der andere lächelte maliziös. Er stand jetzt unmittelbar vor dem Hirschgeweih. »Ich bin wohl doch zu schnell für dich«, höhnte er. Noch immer war er kaum außer Atem.
»Das werden wir sehen!« Martinez stürzte vor und wollte die Dolchhand seines Gegners packen, doch der wich mit dem Oberkörper zurück und stieß mit dem ausgestreckten Arm zu. Er traf Martinez oberhalb des linken Schlüsselbeins. Der Stoß war so stark, dass die Klinge tief in die Muskulatur eindrang. Martinez spürte einen Schlag, aber keinen Schmerz. Er nutzte den Schwung seiner Bewegung, packte seinen Gegner unter den Achseln und stemmte ihn hoch. Dann schleuderte er ihn mit brutaler Kraft gegen die Wand. Der Fremde krachte mit dem Rücken in das Geweih. Ein spitzes Ende durchstieß seinen Körper und trat an der Brustseite wieder hervor - wie der Stachel eines Rieseninsekts. Für ein, zwei Sekunden hing der Fremde am Geweih, dann löste es sich aus seiner Befestigung und stürzte polternd mit seiner Last zu Boden. Erst jetzt spürte Martinez den Schmerz in der Schulter. Er nahm den Stoffballen und drückte ihn gegen die Wunde, um die Blutung zu stillen. Der Wirt kam und gab ihm einen Becher Wein. Martinez trank durstig. Dann ging er zu seinem Gegner, der sich mit dem Geweih im Rücken am Boden wälzte. Der Fremde stöhnte. Der Dolch entglitt seiner Hand. Martinez gab den Becher zurück.
»Du lässt sofort einen Wundarzt holen«, befahl er dem Wirt.
Kurz darauf erschien ein zierlicher Mann mit einem Koffer in der Hand. Martinez glaubte in ihm den Arzt vom Autodafe wieder zu erkennen. »Seid Ihr der Feldscher, der auch bei der Verbrennung dabei war?«, fragte er.
»Ja.« Der kleine Mann hielt sich nicht mit langen Reden auf. Rasch kniete er neben dem Fremden nieder und untersuchte ihn. Dann richtete er sich wieder auf.
»Am besten wäre es, ihn mit einer Trage in meine Praxis zu transportieren, dort habe ich alles Notwendige für eine Operation.« Er wandte sich an den Wirt: »Könnt Ihr dafür sorgen?«
»Ich denke schon.« Der Wirt kratzte sich seinen schwammigen Bauch. »Wir hängen die Tür aus und tragen ihn darauf zu Eurem Haus.«
»Danke. Bis Ihr dort seid, kann ich den Kontrahenten untersuchen.« Der Arzt blickte abschätzend auf Martinez, der sich noch immer den Stoffknäuel gegen das Schlüsselbein drückte. »Ihr müsst beträchtliche Körperkräfte haben!« »Nun ja.« Martinez war geschmeichelt.
»Allerdings scheinen Eure geistigen Kräfte es mit Euren körperlichen nicht aufnehmen zu können, sonst wäret Ihr einem Messerkampf aus dem Wege gegangen. Wo ist übrigens der zweite Dolch?«
»Es gibt nur den einen, ich habe ohne Dolch gekämpft.«
»Soso. Ich nehme an, Ihr seid Landsknecht, weil Ihr mich vorhin Feldscher genannt habt?«
»Äh, ja. Mein Name ist Martinez.«
»Ich nenne mich Manutus Corte. Ich habe meinen Doctorus medicinae in Italien an der Universität zu Salerno erworben. Ihr könnt von Glück sagen, dass ich kein Feldscher bin. Euer Gegner hätte in diesem Fall noch geringere Aussichten zu überleben.«
»Steht es so schlecht?«, fragte Martinez erschreckt.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das Geweihende hat von hinten die rechte scapula durchbohrt, also das rechte Schulterblatt. Der Stoßkanal liegt erfreulicherweise ziemlich hoch, zwischen der dritten und vierten Rippe, sodass die Lunge wahrscheinlich keinen Schaden genommen hat. Dafür spricht übrigens auch die Tatsache, dass dem Verwundeten kein Blut aus dem Mund läuft. Das herausragende Ende steht drei Fingerbreit über der Brustwarze. Viel wird davon abhängen, wie kompliziert die Verletzungen im Brustraum sind. Doch nun zu Euch: Nehmt den Stoffknäuel fort, damit ich mir ein Bild von Eurer Wunde machen kann.«
Martinez tat es. Der kleine Doctorus schaute sich die Verletzung, die immer noch stark blutete, genau an.
»Der Schmerz dürfte größer sein als die Gefahr, die von dieser Stichwunde ausgeht«, sagte er endlich. »Ihr habt großes Glück gehabt, dass die Arteria. subtavia, die Schlüsselbeinschlagader, nicht verletzt
Weitere Kostenlose Bücher