Der Wanderchirurg
ab, doch schon bei geringer Beanspruchung waren die Schmerzen wieder da. Ähnlich verhielt es sich mit den Oberschenkeln. Trotzdem: In ein paar Tagen würde er wiederhergestellt sein!
Er gähnte ausgiebig und trat ans Kohlebecken. Ein Rest an Glut war noch vorhanden. Mit wenigen Handgriffen entfachte er das Feuer neu und gab Kohlen hinzu. Die Wärme, die dem Becken entströmte, tat ihm gut. Dann setzte er Wasser auf und gab in den Krug die drei Kräutersorten für den Heiltrank: Johanniskraut mit seiner wundheilenden, schmerzlindernden Wirkung, Schafgarbe als Blutmittel und Arnikawurzeln mit ihrer bemerkenswerten Heilkraft bei Venenstauungen. Als das Wasser kochte, goss er es auf die Kräuter und ließ das Ganze eine Weile ziehen. Dann nahm er mit dem Holzlöffel die Kräuter aus dem Krug. Er schenkte sich probeweise einen Becher ein und kostete. Der Trank schmeckte nicht sonderlich, aber er war sicher, dass er ihm ebenso helfen würde wie Nunu.
Danach stellte er den zweiten Krug bereit und machte sich an die Zubereitung des Venentonikums Asklevirium. Dazu nahm er Blätter und Früchte der Rosskastanie. Die Blätter gab er einfach so ins Gefäß, die Früchte zerdrückte er im Mörser zu Bröckchen. Dann tat er Wilde Malve, zerstoßene Arnika und Steinidee dazu. Wieder verfuhr er wie bei der ersten Zubereitung, nur nahm er weniger Wasser.
Als auch diese Arznei fertig gestellt war, griff er zum Buch De morbis und blätterte darin. Die von ihm vorbereiteten Medikamente waren noch nicht alles, was für die Behandlung notwendig war. Nunu würde noch eine Reihe weiterer Dinge beachten müssen.
Gedankenverloren las er und setzte sich. Mit einem Schmerzensschrei sprang er wieder auf. Die Wunden des Stachelstuhls taten noch immer teuflisch weh. Doch wenn er sich nicht täuschte, nicht mehr ganz so stark. Vorsichtig setzte er sich abermals. Es ging! Es war zwar nicht sonderlich bequem, aber es ging! Rasch stand er wieder auf. Er nahm sich vor, noch einen oder zwei Tage zu warten, bevor er den nächsten Versuch wagte. Aber er war sicher, dass er die kommende Nacht nicht mehr auf dem Bauch schlafen musste. Er blätterte weiter im Handbuch De morbis. Wie immer nahm ihn die Lektüre so gefangen, dass er Zeit und Ort vergaß.
Nunu erschien gegen Mittag und hatte Essen dabei, »'n Fladenbrot un'n Stück Speck!«, sagte er und drückte Vitus beides in die Hand.
"Danke, Nunu.«
»Was is mit meinem Bein?«
»Die Behandlung beginnt jetzt. Als Erstes muss ich mir die Wunde ansehen. Leg dich aufs Bett, und zieh den linken Strumpf aus. Das Loch im Bein ist doch links?«
»Hmja.« Nunu gehorchte umständlich.
»Lass mal sehen.« Vitus hockte sich daneben und nahm den schmutzigen Lappen fort, mit dem die Stelle abgedeckt war. Interessiert betrachtete er die Wunde. Es war ein nahezu kreisrundes Loch von dreieinhalb Zoll Durchmesser, nicht sehr tief, aber übel riechend. Es saß
außen, zwei Fingerbreit über dem Knöchel. Die Ränder waren blaurot verfärbt, da und dort hatte sich wildes Fleisch gebildet.
»Dass du bis heute keinen Wundbrand bekommen hast, grenzt an ein Wunder«, murmelte Vitus. »Die Säfte deines Körpers sind im Ungleichgewicht, die offene Stelle ist zu heiß, viel zu heiß.« Er überlegte, ob ein Wundkissen mit Leinsamen in Frage käme, denn Lein war sanft und warm und somit als Mittel des Gegensatzes geeignet. Aber er hatte bereits bei der Brandwunde des Magisters Leinsamen eingesetzt, und der kleine Gelehrte war trotzdem fast gestorben.
Vitus beschloss, sich streng an die Anweisungen im Werk De morbis zu halten. »Ich werde zuerst die Wunde reinigen und dann das faule Fleisch an den Rändern entfernen«, sagte er. »Das wird wehtun. Aber jemandem wie dir, der mit Schmerzen umgehen kann, macht das ja sicher nichts aus.«
»Ja«, krächzte Nunu. Der Hintersinn der Worte war ihm entgangen.
Vitus tupfte die Wunde vorsichtig ab. In der Mitte nässte sie. Berührungen in dieser Zone mussten sehr schmerzhaft sein. Wenn man bedachte, dass die Wolle des Strumpfs sich bei jedem Schritt an der Wunde scheuerte, war es kein Wunder, dass Nunu hinkte. Vitus hörte, wie der Koloss mit den Zähnen knirschte.
Er nahm aus seiner Kiepe die chirurgischen Instrumente, prüfte die einzelnen Geräte sorgfältig und entschied sich für den Scharfen Löffel.
»Was is das, was soll das?«, fragte Nunu misstrauisch.
»Das nennt man einen Scharfen Löffel. Ich brauche ihn, um das wilde Fleisch fortzuschneiden.«
Nunu schnellte
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