Der Wanderchirurg
noch mal vorbei, dann habe ich die Liste mit den Arzneien fertig. Und besorg mir bis dahin noch was zu essen.«
»Mal sehn.« Der Koloss verschwand. Vitus stellte mit Befriedigung fest, dass er einen gewissen Einfluss auf den Kerkermeister gewonnen hatte. Doch durfte man sich nicht täuschen. Der Riese war tückisch wie ein alter Bulle. Gespannt schaute Vitus in den doppelten Boden der Kiepe. Ja! Da war das Buch, unversehrt, wie er es weggepackt hatte. Mit dem Schlüssel, den er die ganze Zeit wie ein Kleinod gehütet hatte, schloss er den Folianten auf. Bald hatte er, mit dem geöffneten Buch auf und ab wandernd, alles um sich herum vergessen. Die Welt der großen Ärzte mit ihren faszinierenden Erkenntnissen zog ihn wie immer in ihren Bann. Nach einiger Zeit hatte er drei Autoren gefunden, die sich fundiert zu dem Problem eines offenen Beins äußerten. Es waren Hippokrates, Galenos und Paracelsus.
Vitus verglich die verschiedenen vorgeschriebenen Medikamente und Behandlungsschritte und stellte viele Parallelen fest. Er merkte sich die Gemeinsamkeiten und trat an den Tisch, um die Liste zu schreiben. Doch er konnte die Feder nicht richtig halten, da sein oberes Daumenglied noch fast steif war. Schließlich klemmte er die Feder zwischen Zeige-und Mittelfinger und benutzte die Maus des Daumens, um dagegen zu drücken. Er brauchte zum Schreiben über eine Stunde. Die letzten Posten hatte er für seinen eigenen Bedarf aufgeschrieben. Mit der Honigsalbe wollte er seine Verletzungen behandeln, und das Seifenkraut sollte der täglichen Körperpflege dienen. Das Verbandszeug schließlich war sowohl für ihn als auch für Nunu vorgesehen. Abermals machte er eine Pause und dachte nach. Dann fertigte er eine zweite Liste an. Nachdem er die zweite Liste geschrieben hatte, fühlte er, wie die Müdigkeit ihn abermals überkam. Er legte sich auf den Bauch und zwang sich, vor dem Einschlafen Bewegungsübungen mit seinen Daumen zu machen. Mit dem Gedanken, dass er für den Augenblick nicht mehr tun konnte, fielen ihm die Augen zu. Nunu erschien spät in der Nacht und rüttelte ihn unsanft am Arm. Er fuhr hoch, schlaftrunken und voller Schmerz.
»He, was ist?«
»Könnt nich früher kommen, Ketzerdokter, hab aber was zu fressen dabei!« Der Koloss rückte den wackligen Tisch ans Fenster, damit das Mondlicht darauf fallen konnte. Dann knallte er einen großen Holznapf mit Ziegenkäse und Weintrauben auf die Platte. Einige der Früchte sprangen hoch und kullerten über Vitus' Listen. Er beachtete es nicht. »Hättste nich gedacht, dass de noch mitten inner Nacht was kriegst, he?«
»Ich danke dir, Nunu.« Vitus nahm mühsam eine Weintraube auf, um sie zu probieren. »Sie ist köstlich!«
»'s will ich meinen. Hab meine Beziehungen spielen lassen.« Der Koloss setzte sich ächzend an den Tisch. Sein Blick fiel auf das beschriebene Papier. »Was is nu mit meinem Bein?«
»Das sind zwei Listen mit Dingen, die du besorgen musst, damit ich dir helfen kann.« Vitus griff zur ersten.
»Mit dieser Aufstellung gehst du zum Apotheker von Dosvaldes. Sag ihm, er soll dir die einzelnen Pflanzen in Kräutersäckchen mitgeben. In der zweiten Liste sind die Gegenstände aufgeführt, die ich brauche, um die Arzneien herzustellen. Geh damit zu >jemandem von der Gefängnisverwaltung, der lesen kann. Je schneller du mit den Sachen wiederkommst, desto früher kann ich mich um dein Bein kümmern.« »Nu, nu, will sehn, was ich machen kann.« Der Koloss erhob sich ächzend und hinkte zur Tür. Erst am Nachmittag des übernächsten Tages erschien Nunu wieder. Er war in Begleitung der Ratte, die ihm tragen half. Gemeinsam schleppten sie einen großen Weidenkorb herbei, in dem sich alles befand. Wie Vitus es gewünscht hatte, waren die Kräutersorten einzeln in Säckchen verpackt. Die anderen Gegenstände wurden nach und nach im Raum aufgestellt.
»Was willst du bloß mit dem ganzen Kram?«, zischte die Ratte. »Fehlen nur noch Bilder an der Wand!«
Vitus ging nicht darauf ein. »Ich habe gestern den ganzen Tag nichts zu essen bekommen.«
»Kann nich alles auf einmal«, brummte Nunu.
»Entweder ich hol das Zeugs vom Apotheker, oder ich fütter dich.«
»Ich brauche Essen!«, beharrte Vitus. »Wenn du mir nicht jeden Tag etwas bringst, werde ich immer schwächer. Dann kannst du sehen, wer dir dein Bein kuriert.«
In Nunus Gesicht arbeitete es. »Das is was andres«, sagte er endlich, »mein Bein muss gesund wer'n, 's Hinken is nich gut, 's tut
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