Der Wandermoerder
gibst mir Wasser aus einem Eimer, aus dem auch deine Ziegen trinken.«
»Wenn es gut genug für eine Ziege ist, dann ist es auch gut genug für dich«, knurrte Charlon.
Als er das nächste Mal Vachers Glas auffüllte, ließ er etwas Wasser auf dessen Füße fallen. Vacher schleuderte daraufhin Charlon das Glas ins Gesicht, aber der wich aus und warf Vacher den Eimer an den Kopf. Dann trat Vacher ihm in den Magen, doch Charlon parierte den Tritt und gab ihm einen Schlag, der Vacher zu Boden schleuderte.
Nach sechs Stunden kehre schließlich Plantier mit zwei Polizisten zurück. Vacher betrachtete sie eingehend und sagte dann mit selbstzufriedener Miene: »Ich respektiere nicht euch, sondern eure Waffen.« Als er sah, dass die Gendarmen es ernst meinten, befahl er ihnen spöttisch: »Los geht’s! Abmarsch!« Und während sie ihn abführten, rief er in militärischem Ton: »Eins, zwei, eins, zwei!«
Er wurde nach Tournon gebracht, wo ein Gericht ihn wegen Verstoßes gegen die guten Sitten zu drei Monaten und einem Tag Gefängnis verurteilte. Das Urteil wäre härter ausgefallen, wenn ihm die Vergewaltigung gelungen wäre, doch der Versuch galt nur als geringfügiges Vergehen.
Vacher erwartete einen unspektakulären Aufenthalt im Gefängnis. Bisher hatte niemand seine Verbrechen miteinander in Verbindung gebracht, und er kannte die Unfähigkeit der Landpolizei. Daher rechnete er damit, nach drei Monaten wieder frei zu sein. Dann wollte er die Gegend verlassen und der Jungfrau Maria für ihren Schutz danken. Doch der Untersuchungsrichter dieser Stadt studierte seine Akten offenbar genau. Er erinnerte sich an Fourquets Schreiben und beantwortete es mit einer Beschreibung Vachers. Im Laufe des folgenden Briefwechsels erwähnte er, dass Vacher noch einige Monate im Gefängnis sitzen werde. Er fragte Fourquet, ob er bis zum Ablauf der Haft warten oder den Verdächtigen schon jetzt verhören wolle. Fourquet schrieb zurück: »Lassen Sie den Gefangenen sofort nach Belley bringen.«
Fünfzehn Das Verhör
Es war eine wilde Zugreise von Tournon über Lyon nach Belley. Zwei Polizisten schoben Vacher in einen Waggon der zweiten Klasse, in dem keine anderen Fahrgäste zugelassen waren, schlossen die Türen und legten ihm Handschellen an. Während der zweistündigen Fahrt nach Lyon plapperte er vor sich hin, wie sehr er die Polizei bewundere und wie hart seine Strafe in Tournon gewesen sei. Als der Zug eine Brücke überquerte, sprang Vacher plötzlich auf ein offenes Fenster zu. Er war fast schon draußen, als einer der Beamten ihn gerade noch an den Schienbeinen festhalten konnte. Sekundenlang hing Vacher halb aus dem Zug, während der Polizist seine Beine umklammerte. Dann eilten einige Passagiere aus einem benachbarten Waggon zu Hilfe. Später, als die Gruppe auf dem Bahnhof von Lyon auf den Anschlusszug nach Belley wartete, schrie Vacher anarchistische Parolen und verfluchte die widerwärtige französische Bourgeoisie.
In Belley stand er dann seinem Inquisitor gegenüber. Fourquet betrachtete den Verdächtigen lange und verglich seine physischen Merkmale mit denen auf Vachers Bertillon-Karte. Mit vorgetäuschter Freundlichkeit durchsuchte er Vachers Sack und fragte, wo er die darin enthaltenen Gegenstände erworben habe.
Hans Gross, der große Wiener Kriminologe, hatte in seinem Handbuch der Kriminalistik auch über Verhörtechnik geschrieben. Gross lehnte die üblichen Praktiken wie Druck oder gar Folter ab und bevorzugte die neue Wissenschaft der Psychologie. Man müsse das Temperament des Verdächtigen verstehen und ausnutzen und ihm so wichtige Informationen entlocken. Das bedürfe natürlich Vernehmungsbeamten einer neuen Art – nicht den schreienden, einschüchternden Typ, sondern einen Beamten, der seine Leidenschaft zügeln könne. Wer sich aufrege oder die Beherrschung verliere, liefere sich dem Beschuldigten aus.
Gross’ Beschreibung eines geschickten Vernehmungsbeamten passte genau auf Fourquet. Die ideale Person »kennt die Menschen, besitzt ein gutes Gedächtnis, hat Freude an ihrer Arbeit und widmet sich ihr mit Begeisterung«. Ein solcher Mann dürfe sich nicht von Wut überwältigen lassen. Er müsse kaltes Blut bewahren, einerlei, wie abscheulich das Verbrechen auch sei, und, wenn nötig, im Geiste ständig diese Worte sprechen: »Es ist meine Pflicht.«
Für Gross war das Verhör eine komplexe Diskussion oder eine Reihe von Diskussionen mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Vor dem Verhör
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