Der Weg der gefallenen Sterne: Roman

also ganz genau, wie aufgelöst sie war – Opfer ihrer eigenen Vorstellungskraft.
    »Wieso tut ihr mir das an?«, flüsterte sie. »Ich habe doch nichts Falsches getan.« Wenn der Protektor so mit ihr umsprang, obwohl er von ihren Kundschaftern wissen musste, dass sie die Anführerin war – dann hielt ihn nichts davon ab, den Menschen von New Sylum noch schlimmere Gewalt anzutun. Ich bin jetzt schon gescheitert, dachte sie.
    Sie befühlte den Verband an ihrem Arm. Wieso hatten sie ihr Blut abgenommen? Was hatten sie ihr gespritzt? Ihr Blick ging wieder zu den schwarzen, bewegungslosen Ketten. Eine Fliege umkreiste langsam das Metall, als suchte sie noch nach Spuren feuchten Fleisches. Wieder malte sich Gaia aus, was für Qualen Leon hier hatte erleiden müssen, weil er sie beschützt hatte, weil sein Vater ihn hasste – und der Protektor könnte es jederzeit wieder tun. Sie schauderte und bedeckte ihr Gesicht.
    »Es geht ihm gut«, sagte sie laut. »Er ist nicht hier. Es geht ihm gut.«
    Sie versuchte sich zu sagen, dass ihr noch niemand etwas tat. Niemand schwang die Peitsche. Die einzige Folter war ihre eigene Angst, und die fand nur in ihrem Kopf statt. Wenn sie die Angst doch nur stoppen könnte! Wieder atmete sie tief durch und versuchte ein wenig der inneren Stärke zurückzugewinnen, die sie sich als Matrarch angeeignet hatte. Sie versuchte, sich den Sumpf von Sylum mit seinen beruhigenden Blau- und Grüntönen vorzustellen, den süßen Wind auf ihren Lippen.
    Da glaubte sie ein Geräusch an der Tür zu hören. Sie lauschte aufmerksam, und schluchzte fast vor Erleichterung, als sich tatsächlich der Schlüssel im Schloss drehte.
    Sie stand auf, die Hände an der Wand.
    Die Tür öffnete sich. Darin stand Bruder Iris, wie immer ganz in Weiß gekleidet, die Augen von einer getönten Brille verborgen. Sein gepflegtes Äußeres stand in krassem Widerspruch zu dem finsteren Flur. Dennoch schien er völlig entspannt, als stattete er Zelle V öfter einen Besuch ab. In seinen Armen hielt er ein kleines, weißes Tier mit blassem Rüssel – ein Ferkel.
    »Schon genug, meine Liebe?«, fragte er.
    Sie hätte sich am liebsten übergeben. »Bringt mich zum Protektor.«
    Er hob eine Braue. »Du ahnst gar nicht, wie groß die Verlockung ist, dich einfach hierzulassen. Die Arbeit mit dir ist so viel befriedigender, als sie es mit Leon je war. Oder mit deiner Mutter. Du bist so viel einfühlsamer – wie ein fein gestimmtes Instrument. Ich kann mich nur nicht recht entscheiden, was für eines. Vielleicht eine Bratsche?«
    Sie spürte, er wollte, dass sie um ihre Freiheit flehte, und wischte sich die Tränen von der Wange.
    »Lasst mich einfach raus«, sagte sie. »Ihr hattet Euren Spaß.«
    »Einen Vorgeschmack zumindest«, stimmte er zu.
    »Der Protektor hat das nicht angeordnet, oder?«, fragte sie. Sie konnte einfach nicht fassen, wie widerwärtig der kleine, grauhaarige Mann mit den schlaffen Schultern sie behandelte. »Das war allein Eure Idee.«
    »Wir mussten dich ja irgendwo unterbringen, während wir warteten.«
    »Und worauf?«
    Auf dem Flur schlug eine Tür, und sie zuckte zusammen.
    Bruder Iris lächelte fein.
    »Auf die Ergebnisse deiner Blutprobe. Ich hielt es für eine gute Idee, dich daran zu erinnern, wer hier das Sagen hat, besonders eingedenk deiner Vorgeschichte. Du hast dir schon deutlich zu viel geleistet. Der Protektor zieht es zwar vor, sich selbst um dich zu kümmern – aber geh nur einen Schritt zu weit, und du landest wieder bei mir. Ich kriege immer, was ich will. Haben wir uns verstanden?«
    Gaia schaute zu der Peitsche. »Ist es das, was mit Leon passiert ist?«
    »Leon war ein spezieller Fall.« Bruder Iris trat einen Schritt zurück und winkte vier Wachen herein. »Fesselt sie«, sagte er. »Einen Knebel brauchen wir diesmal nicht. Oder doch, meine Liebe?«
    Sie schüttelte stumm den Kopf. Starke Hände packten ihre Arme, und sie biss die Zähne zusammen, als man ihr abermals die Handgelenke fesselte.
    Dann verließen sie Zelle V und stiegen am Ende des Flurs eine Treppe hinab. Danach ging es weiter durch einen feuchten, engen Tunnel, der nur von nackten Glühbirnen in vergitterten Halterungen erhellt wurde, die eine nach der anderen zum Leben erwachten, wenn sie sich ihnen näherten. Sie gingen hintereinander, und an manchen Stellen mussten die Wachen sich ducken, so niedrig war es. Holzbalken stützten Tunneldecke und Wände, und Gaia fühlte sich an die alten Bergwerksstollen erinnert,