Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
»Ihr habt immer noch das Problem mit der Inzucht«, sagte sie dann. »Das muss Euch doch Sorgen machen.«
»Interessanter Punkt, den du da ansprichst. Tatsächlich mache ich mir eine Menge Gedanken deshalb.«
»Ein größerer Genpool ist langfristig die beste Lösung für die vielen Bluter und die Unfruchtbaren in der Enklave. Öffnet die Tore und ermutigt die Bürger der Enklave, Wharftons und New Sylums, sich kennenzulernen. Hochzeiten zwischen allen Parteien werden Eure Probleme lösen. In der Zwischenzeit können wir …«
Er winkte ab. »Dein Vorschlag hat seine Vorzüge, das gebe ich zu. Glaube nicht, dass ich das nicht selbst erwogen habe. Doch ganz davon abgesehen, dass mich allein die Vorstellung anwidert, würde dein Plan Generationen brauchen, um Wirkung zu zeigen. Bei unseren aktuellen Problemen hilft er uns nicht weiter, und uns läuft die Zeit davon, genau wie euch. Ich frage mich daher, wie viel du persönlich zu opfern bereit wärst, um deinen Leuten zu helfen.«
»Was meint Ihr damit?«
Er trat hinter einen Stuhl und stützte erst eine Hand, dann beide auf die Lehne. Keinen Moment ließ er sie aus den Augen. Während ihrer Reise war ihr der unvermeidliche Schmutz, der sich in ihren Kleidern festgesetzt hatte, kaum aufgefallen, doch hier, umgeben von all dieser makellosen Eleganz, wurde ihr bewusst, wie schmuddelig ihre Bluse und ihre Hose geworden waren – und sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie ihre Haare aussahen. Dennoch stand sie aufrecht und begegnete seinem Blick mit so viel Selbstachtung und Würde wie möglich. Beinahe war ihr, als könnte sie eine Spur von Anerkennung auf seinen Zügen sehen.
»Ich befinde mich in einer heiklen Zwickmühle, wie sie dir in deiner Eigenschaft als Anführerin vielleicht nicht unbekannt ist. Ein gehäuftes Auftreten von Hämophilie hat im vergangenen Jahr unermessliches Leid über viele Familien gebracht. Es stand nicht in unserer Macht, den Menschen zu helfen; Myrna Silks Blutbank ist allenfalls eine Notlösung, bis ihre Patienten dann doch an der Krankheit sterben.« Er schaute sie an. »Wir haben zwar kein Heilmittel, aber wir haben einen Weg gefunden, die Krankheit von vornherein zu verhindern. Zumindest in der Theorie. Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, fehlt uns aber noch ein entscheidendes Puzzlestück.«
»Nämlich?«
Der Protektor legte den Kopf schief und strich sich nachdenklich seinen Oberlippenbart. »Ich möchte, dass du dir folgendes Dilemma vorstellst: Angenommen, jemand könnte ein Opfer bringen, dass einer Handvoll Leute helfen würde, und diese Handvoll Leute könnte dann der ganzen Gesellschaft helfen. Sollte diese erste Person nicht das Opfer brin gen?« Sein Blick wurde noch eindringlicher. »Sollte die Gesellschaft diese Person nicht sogar dazu zwingen?«
»Kommt darauf an, worin genau dieses Opfer besteht und worin der Nutzen für die Gesellschaft«, sagte Gaia. Sie war nicht dumm. Ganz offensichtlich wollte er etwas von ihr.
Der Protektor klopfte mit der Hand auf die Stuhllehne und hob das Kinn. »Ich möchte dir jemanden vorstellen, den du noch von früher kennen dürfest und der in dieser ganzen Angelegenheit eine wichtige Schlüsselrolle einnimmt. Sie ist eine friedliebende junge Frau, der ich zu großem Dank verpflichtet bin.« Er warf einen Blick zu Bruder Iris. »Bittet doch Schwester Waybright herein.«
Eine Seitentür schwang leise auf, und herein kam Emily.
»Emily!«, rief Gaia. Sie freute sich so, ihre alte Freundin wiederzusehen, dass sie unwillkürlich auf sie zutrat, doch Emilys ruhiges Lächeln blieb distanziert.
»Bitte befreit sie doch«, sagte Emily höflich.
Gaia stand wie vom Donner gerührt. Wer war dieses beherrschte, vornehme Mädchen? Emilys ausdrucksstarke Augen waren so aufmerksam wie immer, doch von einer seltsamen Ruhe erfüllt. Ihr rotbraunes Haar hatte sie hochgesteckt, sodass ihre breiten Wangen und der strenge Mund noch mehr zur Geltung kamen. Sie trug ein knielanges, leichtes, weißes Kleid mit hoher Taille und an ihrem linken Handgelenk ein ungewöhnliches Band; Gaia musste zweimal hinschauen, um zu begreifen, dass es nicht bloß reflektierte, sondern in seinem eigenen, weichen blauen Licht glomm. Am meisten überraschte es sie aber, wie selbstsicher Emily mit dem mächtigsten Mann in der Enklave sprach, als rechnete sie mit gar nichts anderem, als dass der Protektor ihrer Aufforderung Folge leisten würde.
Noch verblüffender war allenfalls, dass der Protektor der Wache an der
Weitere Kostenlose Bücher