Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
verdienst es, zu hängen. Entweder kommst du freiwillig mit, oder wir fesseln und schleppen dich einfach. Such’s dir aus.«
Gaia versuchte noch immer, sich von ihrem Schreck zu erholen und schaute sich fieberhaft nach Verbündeten um. Genau wie damals waren alle Gebäude weiß und sauber und blendeten sie fast im goldenen Licht der Nachmittags sonne. Sie war von penibler Ordnung umgeben: die sauber gepflasterten Straßen, die prall gefüllten Blumenkästen vor den Fenstern, die Markisen vor den Läden, die den Spaziergängern Schatten spendeten.
Ein Mädchen in einem gelben Kleid verbarg sich hinter dem weißen Rock seiner Mutter und spähte in Gaias Richtung, bis ihre Mutter sie in einen Laden drängte. Und auch die anderen Menschen im Umkreis wichen zurück. Gaia war auf sich allein gestellt.
»Fass mich einfach nicht mehr an«, sagte sie, befreite ihr Haar aus ihrer Halskette und strich sich die Bluse glatt.
»Hier geht’s lang«, sagte Sergeant Burke, und ihre Eskorte nahm sie wieder in die Mitte.
Die breite Einkaufsstraße stieg beständig an und öffnete sich schließlich auf den Bastionsplatz, wo sich der Obelisk in den blauen Himmel erhob – und ihm gegenüber der Turm der Bastion, wo man ihre Mutter gefangen gehalten hatte. Vor den Stufen des herrschaftlichen Baues war ein Galgen aufgebaut. Entweder jemand war kürzlich gehängt worden, oder es stand unmittelbar bevor.
Aus den Tiefen ihrer Erinnerung stieg wieder das Bild der gehängten Schwangeren empor, begleitet von ihrer alten Wut über dieses Unrecht. Gleichzeitig mischte sich auch ein eigenartiges Schuldgefühl in ihre Furcht, ein beklemmendes Verständnis für die herrschenden Mächte – denn auch sie hatte als Matrarch von Sylum schon Kriminelle an den Pranger geschickt. Auf welche Seite der Richterbank gehörte sie?
Eine Gruppe junger, rot gekleideter Frauen überquerte den Platz. Gaia dachte an die wenigen Menschen, die ihr damals geholfen hatten, allen voran die dunkeläugige, lebhafte Rita und die Jacksons, die ganz in der Nähe ihre Bäckerei hatten.
»Da wären wir«, sagte Sergeant Burke und steuerte auf das Gefängnis zu.
Als sie den Torbogen mit seinen schweren Flügeln sah, wich sie unwillkürlich zurück. Zu lebendig war noch ihre Erinnerung an die trostlosen Wochen in Zelle Q, und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie das Gefängnis kein weiteres Mal lebend verlassen würde.
»Ich will nicht ins Gefängnis«, sagte sie. »Ich will mit dem Protektor reden. Bringt mich zur Bastion!«
»Ergreift sie«, sagte der Sergeant.
»Ich will nicht …!«, schrie Gaia.
Jones aber packte sie kurzerhand von hinten und hielt ihr den Mund zu. Sie stemmte ihre Absätze ins Kopfsteinpflaster und biss ihn in die Hand.
»Lasst mich los!«, rief sie. »Hilfe!«
Zwei Wachen hoben sie von den Füßen, und so sehr sie sich auch wand und kämpfte, bugsierte man sie Stück für Stück durch das Tor und Richtung Gefängnis.
»Ich kann da nicht wieder rein …« Ihr versagte beinahe die Stimme. »Bitte!«
»Gaia Stone?«, fragte da ein Mädchen, laut und deutlich.
Eine Sekunde gab Gaia ihren Widerstand auf, und die Wachen packten sie nur umso fester. Vor sich aber sah Gaia nun Leons Schwester Evelyn.
»Hört sofort damit auf!«, rief sie.
Evelyn war größer und schlanker geworden, und die Überraschung über Gaias Anblick stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Wieder versuchte Gaia, sich loszureißen, doch die Wachen hielten sie fest, und ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Schulter.
»Evelyn, hilf mir!«
»Was tust du denn hier?«, fragte sie. »Ist Leon bei dir?«
Da entschloss sich Gaia, seine Anwesenheit nicht länger geheim zu halten.
»Er ist bei meinen Leuten am Trockensee«, sagte sie. Das Mädchen aber machte bloß ein ratloses Gesicht, und Gaia fragte sich, ob es sein konnte, dass die Bewohner der Enklave noch gar nicht bemerkt hatten, dass sich Hunderte von Flüchtlingen direkt vor ihren Toren drängten. Sie hätte eine solche Ignoranz nicht für möglich gehalten. »Hast du uns da draußen nicht gesehen? Du musst mir helfen. Ich muss sofort mit deinem Vater reden!«
Evelyn trat einen Schritt näher, sodass der Schatten des Torbogens auf ihr weißes Kleid und ihr blondes Haar fiel. »Bringt sie sofort in die Bastion. Hört ihr schlecht? Sergeant Burke!«
»Ich habe meine Anweisungen direkt von Bruder Iris«, widersprach er.
»Iris«, zischte Evelyn. Der Name verfehlte offenbar nicht seine Wirkung, denn sie verstummte
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