Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
hilfesuchenden Blick zuwarf. Der aber begann, sich in gedämpftem Ton mit Bruder Iris zu unterhalten.
»Es geht um eine heikle Angelegenheit, die wir nicht besprechen sollten, solange Evelyn in Gefahr schwebt«, sagte Genevieve schließlich. »Man wird dich zu nichts zwingen«, fügte sie noch hinzu. Dann widmete sie sich wieder den anderen.
Gaia war alles andere als beruhigt. Während sie auf Leons Nachricht warteten, wanderte sie zum Fenster. Unter ihr lag der Bastionsplatz mit seinem strahlenförmigen Muster im Pflaster. Den Galgen hatte man wieder abgebaut. Männer und Frauen, alle in Weiß, standen in kleinen Grüppchen zusammen und debattierten. Weiter hinten sammelten sich die farbenfroheren Händler und Arbeiter. Die Enklave gehorchte einer klaren Hierarchie, wie die Steine auf einem Spielbrett. Am Fuß des Obelisken spielten Kinder mit Murmeln und ahnten nichts von der Nervosität ihrer Eltern. Ein Junge auf einem Fahrrad mit einem Korb voller Brot am Lenker wich in letzter Sekunde einem kleinen Kind mit einem roten Ball aus.
Hinter ihr grunzte das Ferkel leise in seiner Decke. Da trat zu ihrer Überraschung Bruder Iris neben sie. Instinktiv wich sie vor ihm zurück.
»Ich hab dir noch gar nicht von meinem Ferkel erzählt«, sagte Bruder Iris. »Es ist das erste seiner Art. Er wurde seiner Mutter künstlich eingepflanzt und von ihr ausgetragen – genau wie eine Leihmutter das tut. Faszinierend, nicht wahr?«
Sie fand nicht, dass er darauf eine Antwort verdient hatte.
Er nahm ein Stück Kartoffel aus einer Tasse im Regal und warf es dem Ferkel in den Glaskasten. Eifrig machte es sich darüber her. »Wir haben in letzter Zeit ein Menge Experimente mit Schweinen durchgeführt«, fügte er hinzu. »Das ist sicherer als mit Menschen. Und ja auch ethisch unbedenklich.«
Er nahm seine Brille ab und schaute sie direkt an. Seine schwarzen Pupillen waren so geweitet wie früher und nur von einem winzig schmalen blauen Ring umgeben. Gaia dachte an ihre Erfahrungen mit Reisblüte und Mohnlilien in Sylum zurück und fragte sich, welche Droge wohl für diesen Effekt verantwortlich war.
»Hat es denn funktioniert mit euch beiden, dir und Leon?«, erkundigte sich Bruder Iris beiläufig und hob eine Braue.
Ihr Privatleben mit Bruder Iris zu diskutieren, war so ziemlich das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte. Natürlich wusste er das. Als sie keine Antwort gab, setzte er seine Brille wieder auf und verfütterte ein weiteres Kartoffelstück an sein Ferkel.
»Ich würde zu gern sein Gesicht sehen, wenn er erfährt, dass ich dich in Zelle V hatte«, fuhr er mit sanfter Stimme fort. »Ich habe ihm versprochen, dass ich das eines Tages tun würde. Und ich halte meine Versprechen.«
Nun reichte es ihr. »Ihr ekelt mich an.«
Bruder Iris schnalzte missbilligend mit der Zunge, doch in Wahrheit schien er sehr zufrieden zu sein. »Denk einfach immer daran, wer für den Protektor die Unannehmlichkeiten beseitigt.«
Ein Soldat kam im Laufschritt über den Bastionsplatz gerannt, vorbei am Obelisken und die Stufen herauf. Bruder Iris kehrte wieder hinter seinen Tisch zurück. Eine Minute später klopfte es an der Tür, und der Bote trat ein. Er grüßte förmlich, übergab den Zettel und stellte sich dann keuchend neben Marquez.
Genevieve schaute ihrem Mann über die Schulter, wie er das Siegel erbrach, die Botschaft auseinanderfaltete und las.
»Der Kerl kann noch immer nicht richtig schreiben«, sagte der Protektor und reichte seiner Frau das Papier. »Iris, ich brauche eine Kamera draußen auf den Stufen. Ich will live im Tvaltar zu sehen sein.« Er tippte auf den Tisch und rief die Wache am Südtor. »Überbringt Leon eine Nachricht. Er soll sich meine Antwort im Tvaltar anhören – jetzt gleich.«
»Jawohl, mein Protektor.«
»Beeil dich«, drängte Genevieve.
»Was glaubst du, was ich gerade mache?«, fuhr der Protektor sie an.
»Lasst mich sehen«, sagte Gaia und griff nach dem Papier. Genevieve reichte es ihr.
Miles,
beweis mir die nächsten fünf Minuten
dass Gaia noch lebt oder ich vergiffte Evelyn.
Du kriegst meine Schwester wieder wenn du Gaia freilässt
Leon Vlatir
Genevieve war außer sich. »Was soll das mit dem neuen Namen?«, fragte sie.
»Vlatir ist der Name seines leiblichen Vaters«, erklärte Gaia.
»Nicht einmal ›Grey‹ ist ihm mehr gut genug«, murmelte der Protektor. »Das hätte Fanny das Herz gebrochen. Los, Mädchen.« Er wies Gaia die Tür, Marquez öffnete. »Schauen wir mal, ob
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