Der Weg der gefallenen Sterne: Roman

verschwunden. Du bist mit deiner Schwester ins Ödland. Wenn ich gewusst hätte, was geschehen würde, wäre ich mitgegangen – ich und meine Familie. Aber ich habe es nicht gewusst. Und ich musste überleben, genau wie du.«
    »Es tut mir leid«, sagte Gaia. »Ich habe gehört, dass der Protektor dir deinen Jungen wegnahm, und auch das mit Kyle habe ich gehört. Ich vermisse ihn.«
    Emily trat einen Schritt näher und senkte die Stimme.
    »Ich will nicht, dass du seinen Namen aussprichst«, sagte sie.
    »Es tut mir schrecklich leid.«
    »Und dein Mitleid brauche ich auch nicht.«
    Gaia ertrug die Verachtung ihrer alten Freundin nicht. Es fühlte sich an, als ginge das letzte Gute, was noch von ihrer Kindheit geblieben war, vor ihren Augen entzwei. »Bitte sei doch nicht so«, sagte sie.
    Emily aber schaute sie abschätzig an. »Weißt du, du warst immer schon ziemlich unreif.«

8 Kameras
    Emily stieß die Tür zum Regierungszimmer auf, und der Wachmann huschte an Gaias Seite, um sie ihr aufzuhalten. Gaia aber stand wie angewurzelt auf der Schwelle, zerrissen zwischen Scham und Schmerz. Da räusperte sich der Soldat dezent, und sie schaute auf. Offensichtlich hatte er den ganzen Schlagabtausch zwischen Emily und ihr mitbekommen, doch sein Gesicht blieb unbewegt.
    »Was?«, fragte sie leise.
    »Du könntest Leon bestellen, dass Marquez hallo sagt. Das ist alles.« Er räusperte sich wieder. »Nach dir, Schwester.«
    Sein ruhiger, mitfühlender Ton gab ihr genau das bisschen Kraft, das sie brauchte, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Sie atmete tief durch. »Danke«, sagte sie und folgte Emily nach drinnen.
    Der Protektor und Bruder Iris standen hinter dem Tisch und diskutierten. Als Gaia eintrat, blickten sie auf.
    »Deine Leute sind doch schlau genug, uns nicht anzugreifen, oder?«, fragte der Protektor.
    Aufgeschreckt trat Gaia näher. »Wieso? Was seht Ihr da?«
    Sie glaubte nicht, dass sie so bald schon angreifen würden, nicht ohne sie; doch Gaia musste eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, was draußen vor sich ging. Wer hatte wohl gerade das Sagen? Will? Leon? Der Protektor tippte eins der Fenster auf dem Bildschirm an, und der Platz vor dem Tvaltar erschien in erstaunlicher Schärfe. Gaia sah Will, Peter und Dinah, die sich aufgeregt mit Derek Vlatir und anderen zentralen Figuren Wharftons berieten. Zwei Dutzend Bogenschützinnen sammelten sich auf den Stufen des Tvaltars, und die Bewohner Wharftons hatten sich mit Schaufeln, Spitzhacken und Knüppeln bewaffnet und wirkten zu allem entschlossen.
    Gaia überflog die Gesichter, konnte aber nirgends Leon entdecken. Irgendwas stimmt da nicht, dachte sie. Er sollte auch da sein.
    »Verstärkt die Wachen auf der Mauer«, sagte der Protektor. »Mit ihren Bogen kommen sie zwar nicht weit, aber behaltet sie auf jeden Fall im Auge.«
    In diesem Moment ging die Tür auf, und Genevieve, die Frau des Protektors, stürmte herein. »Miles!«, setzte sie an, dann fiel ihr Blick auf Gaia, und sie blieb stehen. »Du!«, rief sie. »Weißt du, wo meine Tochter ist?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Gaia.
    Genevieve eilte zu ihrem Mann. »Evelyn ist weg! Vor einer Stunde habe ich nach ihr geschickt, aber niemand hat sie gesehen. Sie ist spurlos verschwunden.«
    »Iris?«, fragte der Protektor.
    »Ich kümmere mich darum«, sagte Bruder Iris und tippte etwas auf seinem Schirm. »Südtor? Ist Schwester Evelyn heute bei euch durchgekommen?«
    Genevieve stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und verfolgte gespannt, was geschah. Ihr weißes Kleid spiegelte sich in dem schwarzen Glas, und als ihr goldenes Haar ihr über die Schulter fiel, strich sie es mit nervösen Fingern zurück.
    Da drang erst ein Knistern aus einem Lautsprecher im Tisch, dann die Stimme eines Mannes. »Ja, vor etwa zwei Stunden. Sie ist noch nicht wieder zurück. Sollen wir nach ihr suchen?«
    »Wenn deine Leute ihr auch nur ein Haar krümmen, bist du tot«, sagte der Protektor zu Gaia.
    »Findet sie!«, rief Genevieve. »Bitte Miles, wir müssen sie zurückholen. Was, wenn diese Fremden sie gekid nappt haben?« Sie wirbelte herum. »Du musst doch etwas wissen!«
    »Wieso sollten wir sie denn gefangen nehmen?«, entgegnete Gaia. »Sie hat gesehen, wie ich verhaftet wurde – mehr weiß ich nicht. Ich bat sie um Hilfe, und sie sagte, sie werde mit Euch reden.«
    Genevieve runzelte die Stirn. »Verhaftet?« Sie wandte sich an den Protektor. »Ist sie denn nicht die Anführerin der