Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
geht’s zur Bastion.«
»Stimmt«, sagte Rita.
»Danke«, sagte Gaia. »Das meine ich ernst.«
»Wenn du jetzt auch noch verschwindest, werde ich mir wirklich Vorwürfe machen. Also komm bitte wieder.«
»Das werde ich.«
Sie zündete eine Kerze an, und mit einem letzten stummen Gruß an Rita schritt sie durch die Tür und ein paar Stufen nach unten, bis sich ein übler Geruch in die schale Luft mischte. Sie hob die Kerze und sah, dass sie sich in einem Tunnel befand, in dessen Mitte eine Rinne verlief. In der Rinne hatte sich verrotteter Unrat gesammelt, wahrscheinlich noch vom letzten Regen. Zu Gaias Rechter lag nur Dunkelheit; zu ihrer Linken, weit voraus, glaubte sie einen Schimmer von Tageslicht zu sehen. Also hinterließ sie ihren ersten leuchtenden Wegweiser am Fuß der kleinen Treppe: Einen Pfeil nach links. Dann ging sie los.
Die Stille war erdrückend und wurde nur vom leisen Geräusch ihrer eigenen Schritte durchbrochen. Diese Tunnel waren anders als die alten Bergwerksstollen, durch die sie mit Leon geflohen war, doch sie hoffte, dass diese noch vor ihr lagen. Als sie die Stelle mit dem Tageslicht erreichte, stellte sie fest, dass es durch einen Kanaldeckel viele Meter über ihr fiel. Sie konnte sogar ein kleines Stückchen Morgenhimmel erkennen und hörte den fernen Klang von Stimmen und Wagenrädern.
Etwas weiter befand sich noch eine Öffnung in der Decke, und diesmal konnte sie die Spitze des Obelisken erahnen. Dann wurde der Weg durch mehrere auffällig neu wirkende Holzkisten blockiert, so als hätte jemand sie erst kürzlich hier abgestellt. Sie zwängte sich daran vorbei. Auf der anderen Seite erwartete sie abermals völlige Dunkelheit; nur ein paar Spinnennetze schimmerten im Schein ihrer Kerze. Sie eilte voran.
Dann machte sie vor Schreck fast einen Satz, als etwas über ihren Schuh huschte. Gerade noch sah sie den haarlosen Schwanz einer Ratte in der Dunkelheit verschwinden. Dann gabelte sich der Tunnel, und Gaia malte auf Augenhöhe abermals einen Pfeil auf einen Vorsprung. Nicht lange danach wurde ihr klar, dass es beinahe unmöglich sein würde, Leon zu finden.
Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte.
Oder wohin die Tunnel überhaupt führten.
Sie sollte besser umkehren.
Sie wusste, es wäre am vernünftigsten, einfach bei den Jacksons auf ihn zu warten, doch beim Gedanken daran, dass er irgendwo hier unten sein könnte, verletzt und in Not, konnte sie einfach nicht aufgeben.
»Leon?«, rief sie in die Dunkelheit. Ihre Stimme klang gedämpft und fremd.
Ein neuer Weg zu ihrer Rechten verengte sich rasch, mit Wänden aus schwarzem Granit, während die Wände geradeaus heller waren und eher wie Sandstein aussahen, also ging sie instinktiv weiter geradeaus, in der Hoffnung, die Stollen wiederzufinden, in denen sie letztes Mal mit Leon gewesen war. Immer, wenn sie an eine Abzweigung kam, markierte sie ihren Weg mit einem Pfeil und vergewisserte sich, dass er im Kerzenschein auch leuchtete. Längst hatte sie die Orientierung verloren, und sie befürchtete immer mehr, dass sich das alles als ein großer Fehler erweisen könnte. Aber irgendwohin mussten die Tunnel ja führen, und sie hoffte nach wie vor darauf, eine vertraute Stelle wiederzuerkennen – zum Beispiel das geheime Versteck, wo Leon und seine Schwestern als Kinder gespielt hatten.
Mehrmals blieb sie stehen, rief Leons Namen und lauschte. Dann fand sie einen breiten Stollen mit niedriger Decke, aus dem kühlere Luft drang, und folgte ihm. Als sie an der nächsten Abzweigung gerade ihren Pfeil malen wollte, bemerkte sie auf der gegenüberliegenden Seite auf einmal ein schwaches, grünes Leuchten.
Fassungslos trat sie näher.
Es war einer ihrer eigenen Pfeile.
Das konnte nur eins bedeuten: Sie war im Kreis gelaufen.
14 Im Kreis
Sie erstarrte und spürte, wie ihr der Schweiß den Nacken hinabrann, während ihr Verstand noch versuchte, die Konsequenzen ihrer Situation zu erfassen.
»So was Dummes«, sagte sie.
Sie straffte sich und malte deutlich einen weiteren Pfeil unter den ersten, mit einer 2 darunter.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Erst jetzt wurde ihr schmerzlich bewusst, in was für einer Gefahr sie tatsächlich schwebte. Es ging hier nicht länger nur um Leon. Wenn sie den Rückweg nicht mehr fand, wenn sie sich verlief, dann gab es keinen Ausweg für sie. Sie musste auf der Stelle zurück zur Bibliothek.
Auf einmal merkte sie, wie durstig sie war. Da sie in ihrem Übermut nicht damit gerechnet hatte,
Weitere Kostenlose Bücher