Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
leid, aber ich lebe wohl noch.«
Sie trat einen Schritt näher und bemerkte die tiefen Ringe unter den Augen des Mädchens. Dann ihre blassen, dünnen Gelenke und den dicken Bauch. Blonde Zöpfe umrahmten ein freches, kleines Gesicht – und auf einmal fiel bei Gaia der Groschen.
»Sasha?«, fragte sie fassungslos.
Das Mädchen setzte sich auf und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. »Wer sonst?«
Gaia hatte es die Sprache verschlagen. Als kleine Mädchen waren Sasha, Emily und sie unzertrennlich gewesen, dann aber hatten sie sich überworfen und viele Jahre nichts mehr miteinander zu tun gehabt. Ein plötzliches Wiedersehen wäre selbst unter normalen Umständen schon pein lich gewesen. So aber war es einfach nur bizarr. »Was machst du denn hier?«
»Ich bin abgehauen. Vom Trägerinstitut.«
»Das habe ich gehört, aber was machst du hier unten? Wo sind wir überhaupt?« Sie schaute den langen Schacht hinauf, durch den Tageslicht fiel. Sie mussten gut ein Dutzend Meter unter der Ede sein.
»Unter dem Park«, sagte Sasha. »Hat dich denn nicht Bruder Cho geschickt?«
Der Name sagte Gaia nichts. »Ich habe mich verlaufen und dich rein aus Glück gefunden. Ich suche nach Leon Vlatir, dem Sohn des Protektors. Du hast ihn nicht zufällig gesehen?«
»Ich glaube, der wäre mir aufgefallen. Also nein.«
Gaia schluckte. »Könnte ich vielleicht etwas zu trinken haben?« Sie hatte die beiden Brötchen gegessen, die Mace ihr gegeben hatte, aber das war bisher alles gewesen.
»Klar.« Sasha deutete auf einen Krug im Regal. »Bedien dich. Hast du vielleicht meinen Großvater getroffen? Wie lange bist du schon zurück?«
»Erst ein paar Tage.« Gaia trank einen großen Schluck kühles Wasser. »Deinen Großvater habe ich noch nicht gesehen. Wieso bist du nicht zurück nach Wharfton?«
Sasha schnaubte. »Ich bin doch nicht blöd! Angeblich durften wir ja jederzeit gehen, aber das war dummes Geschwätz. Rhodeski wünscht keine Abbrecher, nicht bei seinem kostbaren Pilotprojekt.«
Gaia stellte fest, dass Sasha kein Armband mehr trug. Sie zog sich einen Hocker heran. »Ich verstehe nicht ganz – Emily hat gesagt, alles wäre freiwillig, und jeder dürfte gehen.«
»Na ja, da hat sie wohl gelogen. Als ich ihr gesagt hab, dass ich aussteigen will, hat sie sich furchtbar aufgeregt. Sie meinte, ich sollte mir das besser noch einmal überlegen. Und als ich sagte, man könne mich ja schlecht zwingen, hat sie gesagt, es gäbe da ein Zimmer in einem der Türme, wo sie alle einsperren, die verduften wollen. Sie sagte, wenn ich das versprochene Kind stehlen wolle, hätten sie auch das Recht, mich einzusperren.«
»Wie bist du dann entkommen?«
»Ich habe mich davongeschlichen.« Sie streckte einen Fuß aus dem Bett, damit Gaia ihre durchgelaufenen Socken sehen konnte. Ihre Knöchel wirkten geschwollen. »Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte mein Baby nicht weggeben. Selbst wenn es biologisch gar nicht meins ist – es fühlt sich an, als ob es meins wäre. Meins ganz allein.« Es klang, als hätte sie nur auf die Gelegenheit gewartet, endlich darüber zu reden. »Ohne mich wär es gar nicht am Leben. Ich bin nicht bloß eine Trägerin. Es kennt meine Stimme und begleitet mich überall hin. Ich spüre sogar, wenn es Schluckauf hat. Es ist unglaublich, Gaia – ich bin jetzt Mutter. Und das lasse ich mir nicht mehr nehmen.«
Gaia konnte das gut verstehen, denn sie empfand genau das Gleiche. Bei so vielen Geburten hatte sie die Liebe der Mutter zu ihrem Kind gespürt. Bislang hatte sie aber nur Mütter gekannt, die ihre eigenen Kinder zur Welt brachten. Sie kam nicht umhin, an die biologischen Eltern und deren Träume zu denken.
»Aber hast du auch mal an die anderen Eltern gedacht?«, fragte sie daher. »Sie würden das Kind vielleicht genauso lieben wie du.«
Sascha funkelte sie an. »Und wenn dieses Kind hundertmal jemand anderem versprochen war – es ist ein Teil von mir. Es ist meins. Und dabei bleibt es.«
Gaia strich sich ein paar Spinnweben von der Bluse. »Das verstehe ich. Aber hier kannst du nicht bleiben.«
»Einen Monat halte ich schon noch durch. Dann kriege ich mein Kind und kann es irgendwie nach draußen schmuggeln.«
»Das ist zu gefährlich. Du kannst hier unten nicht allein ein Kind auf die Welt bringen.«
»Ich hab schon Hilfe. Ein Freund bringt mir Essen. Er kann mir auch helfen. Außerdem ist so eine Geburt etwas ganz Natürliches, oder? Mein Körper wird schon wissen, was er zu
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