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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jamil Ahmad
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die Anklagepunkte vorgelesen. Sie hätten zwei Armeeoffiziere getötet. »Wenn ihr für schuldig befunden werdet, könntet ihr sterben«, erklärte ihnen ein Mann, der an einem Tisch am anderen Ende des Raumes saß.
    »Oh nein!«, protestierte Roza Khan. »Wir sind zu Gesprächen hierhergekommen.« Er schwenkte das Blatt Papier in die Richtung der Stimme, die ihn angesprochen hatte. »Lies das!«, sagte er.
    »Ich kenne dieses Schreiben«, sagte der andere Mann. »Es hat keinerlei Wert. Es ist nicht unterschrieben.«
    »
Sardar
, sprich du für uns«, sagte Jangu, der neben ihm stand. Die anderen pflichteten ihm murmelnd bei.
    »Nun gut, dann spreche ich also für meine sechs Gefährten.«
    »Sieben«, warf der Junge ein.
    »Sieben«, sagte Roza Khan. »Ich spreche als deren
sardar
, und ich sage, dass ein Wort keiner Unterschrift bedarf noch eines Zeichens und schon gar nicht eines Eides. Das Wort wurde angeboten, und wir haben es angenommen.«
    »Muss ich alles aufschreiben, was gesagt wird?«, fragte der Gerichtsschreiber verdrießlich.
    »Nein«, entgegnete der Richter, »schreib nur auf, was von Belang ist. Bis jetzt ist nichts gesagt worden, was aufgeschrieben werden müsste. Du kannst einfach aufschreiben, dass die Anklage verlesen und erklärt wurde und die Angeklagten sich schuldig bekannt haben.«
    »Das habe ich nicht gesagt. Männer wurden getötet. Viele Männer, nicht lediglich die zwei, von denen du sprichst. Von euren und unseren. Als meinem Bruderstamm gesagt wurde, dass er keinen
sardar
mehr haben sollte, wie hätte ein Mann eine solche Beleidigung hinnehmen können? Hat es je einen Belutschen gegeben, der keinen
sardar
gehabt hätte?« Roza Khan verstummte.
    »Hast du sonst noch etwas zu sagen?«
    »Was soll ich ins Protokoll schreiben?«, fragte der Gerichtsschreiber wieder.
    »Ich frage mich«, sagte Roza Khan, »wie ich dir erklären kann, was ein
sardar
ist. Wenn die Leute in diesem Zimmer still sein könnten, fiele es mir leichter, einen Gedanken zu fassen. Wir Belutschen sind an die Stille der Wüste gewöhnt«, entschuldigte er sich vornehm, »und sind nicht so klug wie ihr.«
    Der Raum verstummte. Nach einer Weile sprach Roza Khan weiter.
    »Ich weiß nicht, ob du mit dieser Geschichte etwas anfangen kannst. Aber es heißt, dass jeder Mann einen
sardar
braucht, sucht und für sich findet – ein Belutsche mehr als andere. Die Geschichte erzählt, dass Adam der erste Belutsche auf dieser Erde war. Als er feststellte, dass er allein war und es niemanden außer ihm gab, war er so unglücklich, dass er jemanden im Geiste erschuf und ihn Allah nannte, damit er einen
sardar
habe.«
    Als Roza Khan am Ende der Geschichte angelangt war, vertieften sich die Falten um seine milchigen Augen abrupt.
    Der Junge sah Roza Khan an. »Das ist eine schöne Geschichte,
sardar
, aber die Leute schreiben sie nicht auf.«
    »Nein, nichts ist bislang aufgeschrieben worden«, bestätigte der Richter. »Für Märchen haben wir hier keine Verwendung. Sie haben keine Beweiskraft. Kann ein Märchen einen Tod erklären? Sag etwas über die Männer, die gestorben sind. Wie sind sie gestorben?«
    »Nun gut.« Roza Khans Stimme klang mit einem Mal kräftiger. »Ich werde dir etwas sagen, das du vielleicht aufschreiben möchtest. Es sind Männer getötet worden, nicht nur einige wenige, sondern viele. Ich habe meinen Stamm dabei angeführt. Ich selbst habe Männer getötet. Mein jüngstes Verbrechen bestand darin, dass ich meinen Stamm in diesen letzten Irrsinn geführt habe. Ich forderte sie auf, sich an diesen Verhandlungen zu beteiligen. Dieses schreckliche Unrecht und diese Fehlentscheidung sind ausschließlich mir anzulasten.«
    »Nein«, fiel ihm der Richter ins Wort. »Das kann kein Mensch glauben!« Er fügte den krönenden Schimpf hinzu. »Wenn ein Blinder behauptet, getötet zu haben oder der Anführer gewesen zu sein, so ist das nur eine Selbstüberhebung ohne jeden Wahrheitsgehalt.« Er wandte sich zum Schreiber. »Schreib ins Protokoll, dass die Angeklagten die Tötungen eingestanden haben.«
    Noch ehe die Abendlampen angezündet wurden, war die Verhandlung vorüber. Die Gerichtsschreiber hatten angefangen, die Akten zu verschnüren und die Schränke zu schließen. Sobald das Urteil verkündet worden wäre, wollten sie sich auf den Heimweg machen.
    Der Richter wandte sich zum Schreiber. »Im Protokoll soll stehen, dass nur sieben Männer angeklagt wurden und sie sich schuldig bekannten. Lasst das Kind

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