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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jamil Ahmad
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laufen.« Sodann verkündete er das Todesurteil und wies die Beamten an, den Jungen auf ihrem Heimweg in der Stadt abzusetzen.

    Über die Belutschen, ihr Anliegen, ihr Leben und ihren Tod wurde völliges und absolutes Stillschweigen gewahrt. Kein Zeitungsredakteur riskierte, sich ihretwegen eine Strafe einzuhandeln. In aller Regel suchten pakistanische Journalisten ihr Gewissen dadurch zu beschwichtigen, dass sie über das Unrecht schrieben, das den Menschen in Südafrika, in Indonesien, in Palästina und auf den Philippinen widerfuhr – aber nicht ihrem eigenen Volk. Kein Politiker riskierte es, verhaftet zu werden: Sie redeten zwar weiter über die Rechte des Einzelnen, über Menschenwürde, die Ausbeutung der Armen, aber das Unrecht, das gleich vor ihrer Haustür geschah, prangerten sie nicht an. Kein Bürokrat setzte seine Entlassung aufs Spiel. Er schmeichelte weiter seinem Gewissen mit der Macht, die er über seine unbedeutenden Untergebenen ausüben konnte.
    Diese Männer starben einen endgültigen und totalen Tod. Sie werden in keinem Lied fortleben; keine Denkmäler wird man für sie errichten. Möglich, dass mit der Zeit selbst ihre engsten Angehörigen sie in ein verschlossenes Abteil ihres Bewusstseins wegsperren werden. Der unerbittliche Kampf ums Überleben gestattet es nicht, dass zu viel Zeit mit dem Gedenken an die Toten vergeudet wird.
    Was mit ihnen starb, war ein Teil des Belutschenvolkes selbst. Ein wenig von der Spontaneität, mit der sie Zuneigung anboten, und etwas von ihrer Höflichkeit und ihrem Vertrauen. Auch dies wurde vor Gericht gestellt und abgeurteilt und starb mit diesen sieben Männern.

    Als der
subedar
mit dem großen Schnauzbart am frühen Morgen die Patrouille durch die Stadt führte, erkannte er den kleinen Jungen, der teilnahmslos gegen die Gefängnismauer gelehnt stand. Der Junge war bei der Bande von belutschischen Banditen gewesen, als sie stolz in die Stadt eingezogen waren. Der
subedar
ließ seine Patrouille halten und näherte sich dem Jungen. »Was willst du jetzt tun?«, fragte er. »Deine Gefährten, sie sind alle tot.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte der Junge. Plötzlich hob er das Gesicht. In seine Augen kam ein eifriger Blick. »Darf ich in die Festung gehen?«, fragte er und zeigte auf die Gefängnismauern. Der
subedar
sah den Jungen scharf an, um festzustellen, ob er scherzte. Ghuncha Gul hasste jede Leichtfertigkeit, aber der Junge hatte in völligem Ernst gesprochen.
    »Nein«, sagte er leise. »Jetzt jedenfalls noch nicht. Ich verlasse diese Stadt, und du wirst mit mir kommen. Der Ort, zu dem ich gehe, ist weit weg, aber es kann sein, dass es dir und mir dort gefällt.«
    Ghuncha Gul befahl der Patrouille, sich in Marsch zu setzen. Er blickte zurück und sah, dass der Junge ihm folgte.

Das Sterben der Kamele
    E r nannte sich Sardar Karim Khan Kharot. Von den Männern seines Stammes und allen anderen wurde er als »der General« bezeichnet. Niemand kannte sein Alter. Danach gefragt, wurde er nachdenklich und sagte: »Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass ich in meiner dritten Zeitspanne bin. Zwei Generationen von Männern, die die Welt mit mir durchwanderten, sind zu ihrem Schöpfer zurückgekehrt, und nur ich bin noch übrig.«
    Sein Haar verlieh seinen Worten Glaubwürdigkeit. Selbst seine Augenbrauen und Wimpern sahen aus wie Flecken frischgefallenen Schnees, die sich tapfer an eine Felsenwand klammerten. Andererseits schienen die Energie und Vitalität, mit denen er seinen nomadischen Stamm jeden Herbst auf seiner immer wiederkehrenden Wanderung vom afghanischen Hochland hinunter nach Pakistan und im Frühjahr, sobald der Winter vorüber war, wieder zurück führte, seine Behauptung Lügen zu strafen.
    Er war in allen Landstrichen, durch die sein Stamm je gezogen war, eine vertraute Gestalt. Einen verschossenen purpur-goldfarbenen Mantel auf den Schultern, wurde er stets von seinem jüngsten Sohn, Naim Khan, der auf die fünfzig zuging, begleitet. Seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, mit der gleichen breitschultrigen und stämmigen Gestalt, allerdings einem pechschwarzen Bart, nannte sich Naim Khan »Oberst«, und niemand wagte es, genauso wenig wie im Fall seines Vaters, ihn zu fragen, wo er seinen Rang erworben hatte. Da es schwerfiel, sich den Vater wie den Sohn militärischer Disziplin unterworfen vorzustellen, nahm man allgemein an, diese Ehrentitel sowie der Purpurmantel des Alten seien ihnen von irgendeinem schon lange

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