Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
verstorbenen König verliehen worden. Falls der Stamm das Geheimnis wusste, behielt er es für sich.
Der Stamm der Kharots zählte etwa eine Million Männer, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, mit den Jahreszeiten zu wandern. Im Herbst sammelten sie ihre Schaf- und Kamelherden, falteten ihre wollenen Zelte zusammen und setzten sich in Marsch. Sie verbrachten den Winter in der Ebene, wo sie rastlos von Ort zu Ort zogen, sobald sie irgendwo keine Arbeit mehr fanden. Manchmal überließen sie die Entscheidung auch einfach ihren Tieren. Wenn die Weideflächen in einem Gebiet abgegrast waren, zwangen die Tiere sie, an einen anderen Ort zu ziehen.
Mit der Ankunft des Frühlings brachen sie wieder ins Hochland auf, ihre Herden schwer von Fett und Wolle, die Karawanen beladen mit Lebensmitteln und Gütern, die von den Gewinnen aus Arbeit und Handel erstanden worden waren; Männer, Frauen und Kinder mit dem herausgeputzt, was sie in der Ebene erworben hatten. Diese Lebensweise hatte Jahrhunderte überdauert, aber ewig würde sie nicht fortbestehen. Sie stellte eine Missachtung bestimmter Auffassungen dar, die die Welt allmählich mit Zivilisation schlechthin gleichzusetzen begann. Die Auffassung von Souveränität, Staatsangehörigkeit, ungeteilter Loyalität einem bestimmten Staat gegenüber; Sesshaftigkeit gegenüber Nomadentum und Staatsgewalt gegenüber Stammesdisziplin.
Der Druck war unerbittlich.
Ein
Wertesystem,
eine
Lebensweise musste sterben. In diesem Konflikt war der Staat, wie stets, stärker als der Einzelne. Die neue Lebensweise triumphierte über die alte. Der Konflikt brach zuerst in Sowjetrussland aus. Ein paar Jahre später starb das Nomadentum auch in China und im Iran aus.
Im Herbst 1958 , da das britische Empire zerfallen war und die ehemals verschwommenen Grenzen Hochasiens zunehmend starrer wurden, erklärten Pakistan und Afghanistan den Nomaden den Krieg. Die Freizügigkeit der
pawindahs
, der »Fußmenschen«, wurde drastisch eingeschränkt.
Die Kharots brachen auf die gewohnte Weise vom Hochland auf. Im Abstand von ungefähr einem Tagesmarsch folgte eine rund hundert Zelte umfassende
kirri
der anderen und strömte mit ihrem jeweils eigenen Anführer nach Kakar Khorasan, zu dem Punkt, an dem sie immer die Grenze überquerten. Jedes Zelt bedeutete eine Familie. Unter einer Familie verstand man nicht nur den Mann, seine Frauen und Kinder, sondern auch seine Hunde und ein paar Hühner, die von den Frauen allgemein überallhin mitgenommen wurden. Die Hunde waren eine besondere Rasse von Doggen, kräftig und wild. Sie wurden schon seit Jahrhunderten gezüchtet und waren als die Khuchi-Rasse bekannt – die Rasse der Nomaden.
Zu einer Familie gehörten außerdem die jeweiligen Kamele und Schafe. Diese wurden normalerweise zusammen gehalten, und die gemeinschaftliche Herde einer
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konnte bis zu einigen tausend Schafen und ein paar hundert Kamelen umfassen. Dass sie zusammen gehalten wurden, bedeutete aber nicht, dass sie Gemeinschaftsbesitz gewesen wären, ebenso wenig führte dies zu irgendwelchen Unstimmigkeiten. Nicht nur der Eigentümer, sondern auch sein fünfjähriges Kind waren jederzeit in der Lage, ihr eigenes Tier ohne das leiseste Zögern aus der Herde herauszufinden. Während der General das unangefochtene Oberhaupt des gesamten Stammes war, bestimmte jede
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informell einen Anführer, der während der Wanderung die Entscheidungen für die jeweilige Gruppe traf.
Es war der zweite Tag des Marsches, und Dawa Khans
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war gerade dabei, das Lager für den Abend aufzuschlagen. Die nach allen Seiten offenen schwarzwollenen Zelte waren festgepflockt worden und sahen aus wie Reihen von schwarzen Fledermäusen, die auf dem Boden ruhten. Der Rauch der Lagerfeuer kräuselte sich in die Falten der Zelte hinein, schwadete wieder hinaus und verzog sich mit der sanften Abendbrise.
Die Männer waren damit beschäftigt, die Gepäcktaschen von den Tieren abzuladen und ihre Lasten zu den Zelten zu tragen – hauptsächlich Teppiche, Dörrobst und Nüsse, die sie in den Städten verkaufen würden. Auch die Frauen hatten alle Hände voll zu tun. Sie kochten und melkten die Kamelstuten und Schafe oder stillten ihre Kinder. Nur die Hunde konnten sich entspannen. Sie hatten ihre Arbeit für den Tag erledigt, waren neben der Karawane hergetrottet, waren gelegentlich zur Spitze, gelegentlich zum Ende gerannt, um die Schafherde zusammenzuhalten, und hatten für jede Meile, die ihre Herren
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