Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
angenommenen Sohn geben.«
Der Junge erwiderte unbewegt den Blick des alten
subedars
, der seit der Hinrichtung seiner Gefährten sein Beschützer gewesen war. Der Mullah ergriff das Wort. »Ich kümmere mich inzwischen seit einer ganzen Weile um diesen Jungen, und ich habe bei ihm eine Intelligenz festgestellt, wie ich sie nur selten sah, und ich mag ihn. Wenn er möchte, kann er mit mir kommen. Wo Gott in seiner Freigebigkeit Speise für einen Menschen beschafft, wird er gewiss auch zwei Menschen sättigen.«
»Gehst du denn auch, Mullah Barrerai?«, fragte Ghuncha Gul.
»Ja, ich gehe wieder auf Wanderschaft. Ich bin lange genug an diesem Ort geblieben. Sorge dich nicht um diesen Jungen. Das Schicksal wird ihm zuteilen, was ihm bestimmt ist. Du kannst in dein Dorf zurückkehren ohne die Bürde eines Ziehsohnes.«
Er wandte sich zu dem Jungen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm mit. Pack deine Sachen, wir brechen in wenigen Stunden auf.«
Der Junge folgte dem Mullah langsam, drehte sich aber dann noch einmal um und sah Ghuncha Gul an. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte er tapfer. »Lebt wohl,
subedar
«, sagte er. »Möge Euch in Eurem Dorf alles Gute widerfahren.«
»Gott schütze dich«, entgegnete Ghuncha Gul und nahm zur Kenntnis, dass der Junge ihn nicht wie sonst mit »Vater« angeredet hatte. Keine Stunde später verließ der Mullah das Fort; der Junge ging an seiner Seite, und der Welpe, der noch keinen Monat bei seinem neuen Besitzer war, trottete hinterdrein.
Der
subedar
stand im Schatten hinter einer Schießscharte und schaute ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Es machte ihn betroffen, zu sehen, dass der Junge und der Mullah guter Dinge zu sein schienen. Sie schwatzten unentwegt, und nicht ein Mal schaute der Junge zurück, nicht einmal zu einem letzten Blick auf das Fort, in dem er zwei Jahre seines Lebens verbracht hatte. »Und das nennt man Dankbarkeit«, dachte Ghuncha Gul.
»Junge«, fragte der Mullah, als sie das Fort verließen, »wie alt magst du sein?«
»Nach meiner Berechnung bin ich sieben Jahre alt.«
»Ah«, sagte der Mullah, »das ist wahrhaft wundersam! Heute ist der siebente Tag des siebenten Monats unseres Kalenders, und du bist sieben Jahre alt! Weißt du denn nicht, dass die Sieben eine heilige Zahl ist? Sieben Tage hat die Woche. Es gibt sieben Himmel. Ja, es gibt sieben Schleier zwischen dem Menschen und Gott ebenso wie zwischen dem Menschen und sich selbst.«
»Das wusste ich nicht«, lautete die verwirrte Antwort.
»In mancherlei Hinsicht bist du unwissend. Ja, es ist so. Wisse dies. Muss ich dir auch noch sagen, dass heute einer dieser Schleier gehoben wurde? Mit jedem Schleier, der hinweggehoben wird, wirst du dich einen weiteren Schritt der Erkenntnis deiner selbst nähern.«
»Ich weiß diese Dinge nicht«, rief der Junge mit besorgter Stimme.
»Ich werde dich solche Dinge lehren und vieles mehr«, versprach der Mullah. So ins Gespräch vertieft, folgten die beiden einer Biegung der Schlucht und verschwanden aus dem Blick des alten
subedars
.
Der Mullah
E ines Abends fingen in einem Bhittani-Dorf die Trommeln an zu schlagen. Die dröhnenden Töne waren die ganze Nacht hindurch zu vernehmen, wie sie über die Hügel rollten und nur gelegentlich pausierten, um den Trommlern zu gestatten, wieder zu Kräften zu kommen und ihren Rhythmus wiederzufinden. Sobald der düstere hämmernde Schlag der Trommeln in die stickigen Hütten und die Felshöhlen drang, wo die Familien des Stammes hausten, rafften sich die Männer aus dem Schlaf auf, griffen nach ihren Waffen und eilten hinaus in die Nacht, zur Quelle des Geräusches. In manchen Fällen waren es die Frauen, die als Erste aufwachten; und sie waren es dann, die die schlafenden Männer weckten, sie wegen ihrer Langsamkeit schalten und sie aus dem Haus scheuchten.
Die Trommeln signalisierten Gefahr für den Stamm. Ein Mann aus jedem Haushalt in der Umgebung musste dem Ruf folgen, bewaffnet und kampfbereit. Als der Morgen dämmerte, hatten sich rund sechzig Männer – die gesamte bewaffnete Streitmacht der drei nächstgelegenen Täler – im Dorf zusammengeschart. Der
chigha
– die schnelle Eingreiftruppe – der Bhittanis, hatte sich versammelt.
Die Männer erfuhren den Grund des Aufrufs, sobald sie eintrafen. Ein Junge, den man mit seiner Herde auf die Weide geschickt hatte, war nicht zurückgekehrt. Seine Angehörigen hatten nach ihm gesucht, aber während sie die umherirrenden
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