Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
paar Monate später ein anständiges Grab richtete. Danach kam er regelmäßig jedes Jahr das Grab besuchen, stand eine Weile davor und ging dann wieder, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln.
Anfangs schenkten die Bhittanis diesen Besuchen nicht mehr Beachtung als denen anderer Fremder. Doch als es auch nach ein paar Jahren so weiterging, gewann ihre Neugier die Oberhand. Irgendwann konnte sich der Bhittani-Häuptling nicht mehr beherrschen und sprach den Besucher an, als er nach dem Beten das Grab verließ.
»Wir fragen uns schon seit langem, Fremder«, sagte er zu dem Besucher. »Warum suchst du dieses Grab so regelmäßig auf? Wie gut kanntest du diesen Mann? Wie kann jemand, der ein so böses Leben führte, nach seinem Tod einen so ergebenen Bewunderer finden?«
»Malik der Bhittanis, ich kannte ihn in der Tat. Ich kannte ihn gut, und es schmerzt mich, wenn du ihn böse nennst. Ich werde dir die Geschichte erzählen, denn seit sie sich zugetragen hat, ist ein Menschenalter vergangen, und es spielt heute keine Rolle mehr, wer sie kennt und wer sie nicht kennt. Höre also. Es war zu der Zeit, als die Briten noch Indien beherrschten. Ich war damals ein junger Offizier, Leutnant bei den Scouts, als ich Mullah Barrerai zum ersten Mal begegnete. Wie es sich ergab, beschlossen ein paar Freunde von mir und ich eines Jahres, die Weihnachtswoche mit der Jagd auf Argalis zu verbringen. Es wurde eine beglückend erfolgreiche Woche, denn dank dem Schnee, der die Tiere in tiefere Lagen trieb, und der Brunftzeit, die sie weniger misstrauisch machte, gelang es uns, einige wirklich schöne Stücke zu sichten und ein paar von ihnen zur Strecke zu bringen. Eines Abends kehrten wir etwas früher als sonst zurück. Da unser Lager sich in der Nähe eines Dorfs befand, beschlossen wir aus einer Laune heraus, unser Abendgebet in der dortigen Moschee zu sprechen.
Die Moschee war für dörfliche Verhältnisse recht groß. Mit etwas gutem Willen hätte man die gesamte männliche Bevölkerung des Dorfes – also an die vierzig Leute – dort hineinbekommen. Die Gebete begannen fast unmittelbar nach unserem Eintreffen, und wir waren darauf eingestellt, sobald sie geendet hätten, aufzustehen und zu gehen. Zu unserer Verblüffung sahen wir aber, dass der Rest der Gemeinde sitzen blieb und der Dorfmullah eine Predigt anfing. Das war zweifellos seltsam, denn wir hatten noch nie etwas von einer Predigt nach dem Abendgebet gehört. Wie auch immer, ich war froh, dass wir blieben, denn wie sich herausstellte, war es eine wirklich ungewöhnliche Predigt.
Zunächst erzählte er uns eine Geschichte über einen Mann aus dieser Gegend, der sehr arm war. Dieser Mann, erzählte er, schlug sich mühsam damit durch, dass er Brennholz sammelte, das er auf seinen Esel – seinen wertvollsten Besitz – lud und von Ort zu Ort trug und verkaufte. Wenn es Nacht wurde, breitete er seine Decke unter dem einen oder anderen Baum aus und legte sich für ein paar Stunden schlafen.
›Freunde‹, sagte der Mullah zu uns, ›dieser Mann führte ein einsames Leben. Seine Eltern waren tot, und seine Brüder, Schwestern und Cousins waren in weit entlegene Gegenden gezogen. Seine Armut gestattete ihm nicht, eine Frau zu nehmen. Man sollte annehmen, dass ein solcher Mann unglücklich war. Doch weit gefehlt! Er nahm sein Los freudig und glücklich hin. Stets war er voller Dankbarkeit und pries seinen Schöpfer, obwohl ein anderer Mensch an seiner Stelle gemurrt hätte. Er sprach regelmäßig seine Gebete, und nie betete er für sich, sondern immer nur für andere. Sah man ihn an, hätte man gedacht, einen wahrhaft zufriedenen Menschen vor sich zu haben. Und so wäre es auch tatsächlich gewesen, hätte es diesen einen heftigen Wunsch nicht gegeben, von dem dieser Mann besessen war. Er hatte einen einzigen, geheimen Wunsch. Obwohl er wusste, dass dieser Traum niemals in Erfüllung gehen würde, erlaubte er sich mitunter die Phantasie einer Pilgerfahrt nach Mekka. Er wusste, dass es für einen armen Mann wie ihn ein Zeichen von Schwäche und unziemlich war, an derlei zu denken, aber er hoffte, dass Gott ihm verzeihen würde, da seine Gedanken nicht böse waren. Nun gut, Brüder! Eines Tages, als dieser Mann gedankenverloren unter einem Baum saß, schien plötzlich eine Stimme zu ihm zu sprechen. ‹Steh auf, geh zu deinem Esel, und er wird dich auf eine Pilgerreise mitnehmen!›, befahl sie. Der Mann war verwirrt, doch er tat, wie ihm geheißen. Als er sich dem Esel
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