Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
formellen bilateralen Abkommen. Das Abkommen sah die Zahlung eines jährlichen, genau festgelegten Betrags an den Stamm sowie die Nichteinmischung in dessen Bräuche und die Regelung seiner inneren Angelegenheiten vor. Im Gegenzug verbürgten sich die Stämme für das Wohlverhalten jedes Mitglieds ihrer Gemeinschaft und all derer, die in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich lebten. Amtlich wurde dies als »kollektive tribale und territoriale Verantwortlichkeit« bezeichnet. Für jeden Verstoß gegen diese Verantwortung konnte der Stamm beziehungsweise dessen Mitglieder nach Maßgabe der sogenannten Grenzkriminalitätsverordnung, der
Frontier Crimes Regulations
, bestraft werden. Die möglichen Strafen reichten von der Internierung eines beliebigen Mitglieds des Stammes, gleich ob persönlich verantwortlich oder nicht, über die Einrichtung einer Blockade bis hin zur Aussetzung der jährlichen Hilfszahlung. Die letzte mögliche Sanktion war eine Strafexpedition durch Regierungstruppen.
Es erging der Befehl, die erste Reaktion gemäß der Grenzkriminalitätsverordnung in die Wege zu leiten. Die Gesetzeshüter wurden angewiesen, die Basare zu durchkämmen, alle Torikhel Wazirs zu identifizieren und festzunehmen, ihre Läden zu versiegeln und jedes Fahrzeug, das dem Stamm gehörte, zu konfiszieren. Diese Aktion würde, wie man hoffte, einen ausreichenden Gegendruck erzeugen und den Stamm dazu bewegen, die Geiseln freizulassen.
Am wirkungsvollsten war eine solche Maßnahme, wenn es gelang, einen nahen Verwandten der Entführer zu verhaften – was wenig wahrscheinlich war. Alle Angehörigen waren klug genug, sich ein paar Tage lang nicht in der Gegend blicken zu lassen. Die Gefangenen würden jetzt nur unter einer von zwei Bedingungen freigelassen werden: Entweder das Lösegeld wurde bezahlt, oder aber die Distriktverwaltung und die Angehörigen der Geiseln gaben sich deren Schicksal gegenüber so lange völlig gleichgültig, bis klar wäre, dass kein Lösegeld gezahlt werden würde. Doch letztgenannte Haltung, die ein Höchstmaß an Geduld erforderte, fiel einem Stammesangehörigen leichter als einem Stadtbewohner. Insofern konnten sich die Männer der ersten Bande dieses Winters mehr als berechtigte Hoffnungen auf eine anständige Rendite machen.
Der von einem jungen Assistant Commissioner angeführte Suchtrupp folgte den Spuren bis hinauf zur Di-striktgrenze, wo das Stammesgebiet begann. Auf dem Weg zu den Wazirs wohnte der Stamm der Bhittanis. Sie hielten dort für eine Weile und schickten ein paar Männer aus, damit sie den
jirga
dieses Stammes zusammenriefen, eine Versammlung von Ältesten und Führern. Nach ein paar Stunden kam der
jirga
zusammen und setzte sich auf der Stammesseite der Grenze nieder. Dies war nicht nur eine Frage der Ehre, sondern auch ein Zeichen von Klugheit, denn sobald sie die Grenze überschritten, würden sie den Gesetzen des »sesshaften Distrikts« unterworfen sein und könnten von der Polizei verhaftet werden – eine Vorstellung, die jedem Stammesangehörigen ein Gräuel war. Als der
jirga
sich vollständig eingefunden hatte, stand der Assistant Commissioner auf und sprach den Rat formell an.
»Älteste und Graubärte des Bhittani-Stammes«, sagte er, »in eurem Nachbardistrikt ist eine Straftat verübt worden. Während der Nacht hat eine Bande von Gesetzlosen in einem wenige Kilometer entfernten Ort einige Lehrer entführt und gewaltsam mit sich genommen. Alle Spuren deuten zweifelsfrei darauf hin, dass diese Bande sowohl beim Eindringen in den Distrikt als auch auf der Flucht durch euer Gebiet gezogen ist. Zum Beweis können wir euch den Trampelpfad zeigen, dem wir, direkt bis zur Grenze eures Territoriums, gefolgt sind.« Er schwieg kurz und fuhr dann fort.
»Ihr seid mit dem Abkommen zwischen euch und uns vertraut. Gemäß dem Abkommen ist ein Stamm nicht nur verantwortlich für die Handlungen seiner Mitglieder, sondern er ist auch verantwortlich für jede Straftat, die
auf
seinem Gebiet oder
durch
sein Gebiet erfolgt. Hinzu kommt natürlich noch der Schandfleck, den eine solche Tat zwangsläufig auf eurer Ehre hinterlässt. Ich fordere euch daher auf, diese Verantwortung auf euch zu nehmen. Ich verlange von euch, dass ihr die Gesetzlosen fasst und sie uns zusammen mit den Gefangenen ausliefert. Tut ihr dies nicht, so werden wir euch als vertragsbrüchig an unserem Übereinkommen ansehen, und ihr werdet verantwortlich sein für die Folgen, die sich daraus für euch
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