Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
entführen lassen? Ihr seid wie der Mann in der Geschichte. Was die Mahsuds euch antun und dass sie es so ungestraft tun, war von der Natur nicht so vorgesehen. Eure Natur sollte euch zwingen, dafür zu sorgen, dass derlei Dinge nicht geschehen. Und dennoch lasst ihr sie gewähren, und wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, stürzt ihr los und lasst eure Wut an anderen aus.«
Die Logik der Geschichte des alten Mannes war unbestreitbar, und der gesamte Stammesrat bog sich vor Lachen. Selbst die Polizisten und die Beamten von der Distriktverwaltung konnten nicht umhin, sich der allgemeinen Heiterkeit anzuschließen.
Nur der junge Hilfskommissar stand wie ein begossener Pudel da, als ihm bewusst wurde, dass er in seinem ersten geistigen Wettstreit mit den Stammesleuten schlecht abgeschnitten hatte. Er hatte keine Gegengeschichte zu bieten, mit der er die Logik des alten Mannes hätte widerlegen können, und deswegen war seine eigene Argumentation, die doch scheinbar auf einem so sicheren und festen Fundament gestanden hatte, jämmerlich in sich zusammengebrochen. Ihm blieb momentan keine andere Wahl, als sich mit Anstand geschlagen zu geben.
Als sie sich den Hügeln näherten, rasteten die Männer eine Weile in der Nähe der Quelle. Sie buken Brot und teilten es mit ihren Gefangenen, und sie beschafften auch ein paar Maulesel, damit die fußkranken Lehrer den Rest des Weges reiten konnten. Ihr Bestimmungsort war das Haus eines alten Mannes, Mandos, der sich um die Gefangenen kümmern und das Lösegeld für sie aushandeln sollte und dafür einen Anteil des Gewinns erhalten würde. Sie erreichten das Haus nach Einbruch der Dunkelheit und trafen den alten Mann beim Nachtgebet an, das er gerade abschloss. Für die Gefangenen war ein Zimmer hergerichtet worden. Da nicht mit einer so großen Anzahl gerechnet worden war, mussten sich je zwei Männer eine Steppdecke teilen.
Als der Morgen kam, wurde einer der Lehrer gebeten, einen Brief an seine Angehörigen zu schreiben und darin von ihrem zufriedenstellenden Gesundheitszustand zu berichten, den Namen ihres Gastgebers zu nennen und, dies vor allem, aufs Inbrünstigste darum zu bitten, dass den Forderungen der Entführer entsprochen und für ihre baldige Freilassung gesorgt werden möchte. Anschließend wurde ihnen ein Frühstück serviert: gebratenes Hühnerfleisch, Weizenfladen und Tee. Bis zu ihrer Freilassung würde man sich mit größerer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit um die Geiseln kümmern, als ein Stammesangehöriger sie für seine eigenen Söhne aufzubringen vermocht hätte.
Am zweiten Tag nach der Entführung erhielt der Deputy Commissioner die Information, die Gruppe habe die Grenze nach Waziristan überquert und sei auf dem Weg zu Mandos’ »sicherem Haus« im berüchtigten Shaktu-Tal, das ein halbes Jahrhundert lang den meisten Gesetzlosen in dem Gebiet Zuflucht gewährt hatte. Die Tatsache, dass Mandos’ Name schon so früh gefallen war, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass dieser Alte den
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durchführen – die Bedingungen verkünden – würde, unter denen man die Gefangenen aus seinem Gewahrsam entließe.
Die ausgedehnte Gebirgsregion Waziristan zerfiel in zwei Verwaltungseinheiten mit jeweils einem zuständigen
Political Agent
. Die zwei Political Agents wurden von der Situation in Kenntnis gesetzt, denn an diesem Punkt würden sie und ihre Mitarbeiter das Spiel übernehmen müssen. Staatsgesetze hatten hier keine Gültigkeit, und die sogenannte Grenzkriminalitätsverordnung war im Prinzip das einzige Verwaltungsinstrument, mit dem die Beamten versuchen konnten, die Bedürfnisse und Sitten der Stämme mit den Anordnungen von der Regierungsseite in Einklang zu bringen.
Der Political Agent von Nord-Waziristan hatte seinen Amtssitz in einem Fort in Miranshah. Der Political Agent von Süd-Waziristan, der hauptsächlich mit den Mahsuds zu tun hatte, war in einer kleinen Garnison namens Wana stationiert. Diese Stützpunkte hatten sich in den letzten fünfzig Jahren nicht nennenswert verändert. Die meisten Männer lebten dort ohne ihre Familien, am Morgen weckte sie noch immer die Trompete, und abends ertönte der feierliche Zapfenstreich. Die Vorposten und Außenposten trugen nach wie vor ihre alten britischen Namen – Guides Hill, Gordon Hill, Gibraltar Picket –, und das Gleiche galt für die Straßen der Garnisonsstadt und die Tore des Miranshah Forts.
Eine der wenigen Neuerungen bestand darin, dass die zwei Political Agents
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