Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Stunde aufgegangen. Sie war noch schwach, aber der Sonnenschein verscheuchte allmählich die Nachwirkungen des nächtlichen Nieselregens aus unseren Körpern und von den Pflanzen um uns herum. Als die Sonne höher stieg, begannen meine wundgelaufenen Stellen und die Wanzenstiche, die ich der Steppdecke unseres gestrigen Gastgebers zu verdanken hatte, fürchterlich zu jucken.
Ich stellte mich auf einen flachen Felsen und betrachtete das Panorama, das vor mir ausgebreitet lag. Dort war, wie eine tellerförmige Vertiefung im Kessel schwarzer, abweisender Berge eingebettet, Maidan, das Herz von Tirah, Heimat einer Viertelmillion oder mehr Afridis. Von dieser Höhe aus konnte man über seine ganze Ausdehnung von vielleicht achtzig Quadratkilometern hinwegblicken. Aus der Ferne sah das Land wie eine säuberlich gearbeitete Flickendecke unterschiedlicher Grüntöne aus, auf der hier und da winzige Steine und Lehmhäuschen herumstanden, jedes mit einem Turm bewehrt.
»Und da!« Hamesh Gul deutete auf ein Gefunkel von Licht, das sich an einem Blechdach brach. »Das ist Bagh – unsere Hauptstadt.«
Ich war endlich zu Hause. Das zarte Band, das mein toter Vater geknüpft hatte und das von meiner Erinnerung an seine einsamen, traurigen Lebensjahre so lange gehütet worden war, hatte mich zu guter Letzt zum Land seines Volkes geführt.
»Ich bin auch ein Afridi«, erklärte ich Hamesh Gul.
»Von wo?«, fragte er.
»Von den Oberen Qambar Khels«, erwiderte ich und erzählte ihm meine Geschichte.
»Wenn du so viele Jahre lang nicht da warst, haben deine Cousins bestimmt deine Felder an sich genommen. Ich hoffe nur, sie stören sich nicht an deiner Rückkehr. Sollen wir jetzt aufbrechen?«
Das Wort für »Cousin« bezeichnete in der Sprache meines Vaters sowohl einen Verwandten als auch einen erbitterten Feind. Wenn ich geglaubt hatte, Hamesh Gul mit der Romantik meiner Geschichte beeindrucken zu können, hatte ich mich getäuscht. Die Nüchternheit, mit der er die Gründe für meine Rückkehr akzeptierte, ärgerte mich. Vielleicht war in seinen Augen nichts Aufsehenerregendes daran, dass ein Afridi – ja selbst nur ein halber – sein Heimatland besuchte. Vielleicht wurde der Drang dazu als selbstverständlich vorausgesetzt. Allmählich begann ich die Intensität des Gefühls zu erahnen, das meines Vaters Herz zerrissen hatte, weil es ihm nicht möglich gewesen war, zu seinem Volk zurückzukehren.
»Ja, ich bin jetzt bereit, weiterzugehen«, sagte ich zu meinen Gefährten. Tor Baz versetzte dem Leitmuli einen Hieb mit der Gerte, und wir begannen unseren Marsch zu Tal. Es war eine beträchtliche Erleichterung, bergab zu gehen; meine Beine, die gegen den Aufstieg lautlos protestiert hatten, entspannten sich jetzt plötzlich angesichts dieser unerwarteten Entlastung. Eine beträchtliche Hilfe stellte auch der dicke Wanderstock dar, den Tor Baz für mich aus einem jungen Eichbaum zurechtgeschnitten hatte. Jetzt, wo mir das Gehen leichterfiel, war es mir auch möglich, meiner Umgebung größere Aufmerksamkeit zu schenken, als es in den letzten zwei Tagen der Fall gewesen war.
Endlich war es Tag geworden. Bald begegneten wir Grüppchen von Menschen. Ein paar Mädchen kamen uns mit Krügen auf dem Kopf entgegen, um Wasser von irgendeiner vielleicht kilometerweit entfernten Quelle zu holen. Sie würden diesen Weg wenigstens drei Mal im Laufe des Tages gehen, um Wasser für ihre Mannsleute zu holen, und sich dennoch nicht scheuen, noch ein weiteres Mal zu gehen, um die für Reisende am Wegrand aufgestellten Wasserfässer aufzufüllen. Sie redeten munter miteinander, aber ihr Geplauder verstummte, als sie sich der Gruppe von Fremden näherten. In diesem Land, in dem der Vorwurf der Unsittlichkeit den sicheren Tod bedeutete, nahmen sich Männer ebenso wie Frauen in Acht.
Wir sahen eine lange Reihe von Ponys, die weit unter uns entlangtrotteten; sie waren mit gutem Holz beladen. Manche trugen von Hand zugehauene Klötze, doch überwiegend transportierten sie entrindete junge Kiefernstämme, die in den Städten für den Bau von Gurtbetten verkauft werden würden.
Der Pfad schlängelte sich über zutage tretenden nackten Fels dahin. Noch während wir hinunterstiegen, stießen wir auf viele und vielfältige Spuren menschlicher Besiedlung. Wir begegneten Trupps von Brennholzsammlerinnen. Es waren in der Regel Grüppchen von Frauen und Mädchen, die mit eiligem Schritt voranstrebten, um die besten Sammelplätze vor den anderen zu
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