Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
leise. »Die ganze Zeit frage ich mich, was einen Mann wie dich, der in einem fremden Land gelebt hat, dazu bringt, diesen Ort und diese Menschen aufzusuchen. Schließlich sind die einzigen Erinnerungen, die du hast, die deines Vaters. Dieses Land kann dir doch eigentlich nichts bedeuten, da du es noch nie gesehen und nie dort gewohnt hast.«
»Es ist schwierig zu erklären, Tor Baz«, erwiderte ich nachdenklich. »Es ist nur eine Sache des Gefühls, und Gründe spielen dabei keine Rolle. Ich will es mal so sagen: dass ich, ohne mein Volk und meines Vaters Land zu kennen, immer das Gefühl gehabt habe, mich selbst nicht wirklich zu kennen. Ich glaube, dass du an meiner Stelle das Gleiche tun würdest.«
»Oh nein, ich nicht!« Er schnaubte verächtlich, mit überraschender Heftigkeit. »Mir sind nur einige wenige Dinge wichtig, und nach seiner Vergangenheit zu forschen bringt nicht viel ein. Was soll es schon für einen Nutzen haben?«
Ich blieb stumm. Tor Baz ergriff wieder das Wort. »Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er bedächtig. »Ich muss in dieser Frage nicht unbedingt recht behalten.«
Nachdem wir etwa eine Stunde lang gewandert waren, sahen wir Hamesh Gul mitten auf dem Weg auf uns warten. Er war nicht allein. Bei ihm waren zwei sehr alte Männer, beide klein von Wuchs und schmächtig. Beide hatten fast identische Stöcke aus Walnussholz, aber damit endeten auch die Ähnlichkeiten. Den ersten hatte das Alter besiegt. Sein Bart war vollkommen weiß und wogte bei jeder Kopfbewegung wie das Gras einer Wiese. Als er mir die Hand reichte, zitterte sie heftig, und selbst seine Haut hatte das glanzlose Aussehen, das einen Mann zeichnet, der nicht mehr weit vom Tod entfernt ist und sich in jedem Augenblick dessen bewusst ist. Hamesh Gul stellte ihn mir als seinen »zweiten Schwiegervater« vor.
»Du wirst heutzutage nicht mehr viele wie ihn kennenlernen«, sagte Hamesh Gul mit offenkundigem Stolz zu mir. Der Alte hörte dies und nahm den Tribut hin, ohne eine Miene zu verziehen. Der andere Mann war wahrscheinlich genauso alt, aber die Angst vor dem Tod hatte ihn noch nicht erreicht. Sein Bart und Schnurrbart verrieten regelmäßige Pflege und waren mit Henna gefärbt. Er war einer der hässlichsten alten Männer, die ich in diesem Gebiet zu sehen bekommen sollte, aber seine Energie und Rastlosigkeit machten ihn auf eine seltsame Weise interessant.
»Ich habe meinen Freund Mehbub nur begleitet, um dich zu begrüßen«, sagte er. »Es ist eine Ehre für uns, wenn bedeutende Gäste uns besuchen.«
Unterdessen huschten seine Augen immer wieder von mir über die Tiere zu Tor Baz – hin und zurück. Er war wahnsinnig neugierig auf uns. Wir gingen im Gänsemarsch los, die zwei alten Männer voraus, während Hamesh Gul hinter den Maultieren die Nachhut bildete. Der Pfad war sehr schmal, und über den größten Teil der Strecke verlief er entlang eines tief eingeschnittenen trockenen Flussbetts. Es war plötzlich sehr dunkel geworden, da sich die Wolken am Himmel zusammengezogen hatten und sich dicht aneinanderdrängten, offenbar bereit, dem Maidan-Tal seinen allabendlichen Guss zu spenden.
Noch bevor wir Mehbub Khans Haus erreichten, hatte ein sehr feiner Nieselregen eingesetzt. Wir falteten alle unsere
chaddars
auseinander und hüllten uns darin ein – mehr eine instinktive Geste als eine bewusste Maßnahme gegen die Nässe.
Die alten Männer verlangsamten ihren Schritt. Sie hüpften über eine niedrige Mauer, die ich in der tiefen Dunkelheit nur erahnen, aber nicht sehen konnte. Es ertönte ein gedämpfter Ruf, und plötzlich öffnete sich eine Tür in die Nacht und gab ein schwach beleuchtetes Zimmer zu erkennen. Wir traten ein. Das war Mehbub Khans
hujra
: Wohnzimmer, Gästezimmer, Konferenzraum und Männerquartier in einem.
Es war ein riesiger Raum, größer als alle
hujras
, die ich bis dahin gesehen hatte. Mehr als zwanzig Männer unterschiedlichen Alters saßen darin – manche kauernd auf dem dick mit getrockneten Schilfblättern und Gras bedeckten Boden, andere zurückgelehnt auf den Gurtbetten, die vereinzelt an den Wänden standen. Die zwei Öllampen im Zimmer spendeten sehr wenig Licht, und auch das nur in ihrem nächsten Umkreis. Große Teile des Raums waren in Schatten getaucht, und die schwächlichen Bemühungen der Öllampen wurden zusätzlich vom Rauch zunichtegemacht, der aus großen Eisenbecken voll mit brennendem Holz strömte.
Als wir eintraten, verebbte das Gemurmel, und die
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