Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
erreichen und mit Beschlag zu belegen. Die Matronen gingen vorneweg, während die sehr jungen Mädchen – zum Teil kaum acht oder neun – in der Nachhut trippelten. Abgesehen von Schneidewerkzeugen hatte jede eine eigene Wasserflasche (meist aus Armeebeständen ausgemustert) und ein unscheinbares Beutelchen, in dem sich der Proviant für den Tag befand. Sie huschten blitzschnell an uns vorbei, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Sie schienen ausschließlich mit ihrer Aufgabe befasst zu sein, ein günstiges Gelände ausfindig zu machen und zu besetzen, ehe der allgemeine Ansturm begann.
Wir passierten kleine Schaf- und Ziegenherden, gelegentlich ein paar vereinzelte Kühe. Sie wurden von kleinen Jungen und Mädchen getrieben, die ebenfalls Wasserflaschen und Proviantbeutel bei sich trugen. Wann immer sie an uns vorbeikamen, verpasste einer von ihnen dem nächsten Tier einen Schlag mit der Rute – eine herausfordernde oder prahlerische Geste; vielleicht in unbewusster Nachahmung der Erwachsenen.
Bald stießen wir auf die ersten Felder. Das allererste davon war nicht mehr als ein Beet, kaum größer als zwei aneinandergestellte Betten. Es lag ganz für sich da, ein einsamer grüner Fleck inmitten von riesigen Felsblöcken. Sein Eigentümer – wer immer es sein mochte, denn es war weit und breit kein Haus zu sehen – hatte es sorgfältig mit einer hohen Feldsteinmauer umgeben, um zu verhindern, dass Jahre harter Arbeit von einer unerwarteten Flut zunichtegemacht wurden.
Weitere Felder kamen in Sicht und dann auch die ersten Häuser. Gedrungene Bauten mit dicken Mauern aus lehmverfugten rundlichen Steinen, die nur halb aus dem Erdboden ragten. Nüchterne Behausungen ohne jeglichen Firlefanz, lediglich als Schutz gegen Wind und Wetter gedacht und dafür konzipiert, plötzlichen Überfällen standzuhalten.
Es war Mittag, und wir waren noch immer auf dem Gebiet der Kuki Khels, des zweitgrößten Afridi-Klans. Hamesh Gul, der uns anführte, bog vom Hauptpfad ab.
»Wir gehen zum Haus meines Schwiegervaters«, erklärte er. »Der Alte ist ein geachteter Malik der Regierung und ist meistens in Peshawar, in Pakistan. Seine Frau lebt in den Bergen.« Hamesh Gul seinerseits hatte für die afghanische Regierung gearbeitet und von ihr eine Rente bewilligt bekommen. Es hätte ohne weiteres auch andersherum sein können, solange die andere Regierung bereit gewesen wäre, für die entsprechenden Dienste zu zahlen.
Bald erreichten wir ein Haus, und Hamesh Gul blieb in einem gewissen Abstand stehen, legte die Hände um den Mund und rief: »Ist jemand da in Amir Khans Haus?«
Wenige Augenblicke später zeigte sich eine Gesichtshälfte hinter einem der Schlitze, die als Fenster fungierten.
»Wer ist es, der das wissen will?«, rief eine Frauenstimme zurück.
»Ich bin es, Hamesh Gul, Amir Khans Schwiegersohn.«
»Welche von meinen Töchtern hast du geheiratet?«, fragte die körperlose Stimme skeptisch.
»Die Zweitälteste. Ich habe zwei Gäste mitgebracht.«
Nach ein, zwei Minuten wurde der Riegel aufgezogen, und eine alte Frau winkte uns herein. Wir banden die Maultiere draußen an. Als wir eintraten, packte sie Hamesh Gul am Ärmel.
»Wie geht es meiner Tochter?«, fragte sie.
»Gut«, erwiderte er. »Ich werde ihr sagen, dass sie bei dir vorbeischauen soll.«
Erst später erfuhr ich, dass Hamesh Gul seine Schwiegereltern noch nie besucht hatte; ebenso wenig hatte die alte Frau ihre Tochter seit der Hochzeit je wiedergesehen. Die lag inzwischen über zwanzig Jahre zurück.
Die alte Frau machte sich drinnen zu schaffen, um ihre Gäste zu bewirten. Es hatte keine Einladung ihrerseits und keine höfliche Ablehnung unsererseits erfordert, damit sie sich ans Kochen machte. Es gab weder Läden noch Gaststätten weit und breit, und jeder Reisende – selbst ein Fremder – musste bewirtet werden.
Während das Essen zubereitet wurde, sprach Hamesh Gul von dem Klan, in den er eingeheiratet hatte. Die Kuki Khels waren der zweitgrößte der acht Klans. Gesetzestreu und friedliebend, hatten sie ihren größten Augenblick erlebt, als ihr Häuptling von den Briten als Häuptling aller Afridis anerkannt worden war. Ihr zweiter Vorstoß in die Prominenz war derselben Familie zu verdanken gewesen, als einer der Häuptlingssöhne das Banner der Revolte gegen die pakistanische Regierung geschwungen hatte. Als Antwort darauf war ihre Burg (wir würden dieses eindrucksvolle Bauwerk später noch zu sehen bekommen) von der
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