Der Weg des Unsterblichen
Kriege, und von diesem Tag an wachten sie von der Erde aus über uns.”
So sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, mich länger als fünf Minuten auf den Unterricht zu konzentrieren. Der Vortrag hörte sich meilenweit weg an, obwohl ich mich sonst sehr für die Zeit vor tausend Jahren interessierte. Meine Gedanken hingen noch am Vorabend, derSchreck saß mir immer noch tief in den Knochen, bohrte sich eiskalt durch meine Eingeweide. Wie auf einmal dieser Unsterbliche zwischen uns gesprungen war, wie er auf Azriel geschossen hatte, mein Handgelenk gepackt und mich hinter sich hergezerrt hatte … allein schon die Erinnerung daran ließ mein Herz rasen wie der verhasste Tausend-Meter-Lauf unseres alljährlichen Sportfestes. War ich wirklich so unaufmerksam gewesen? Wieso hatte ich nicht gemerkt, dass mir einer der Unsterblichen gefolgt war?
Aber das war nicht einmal das Einzige, das mich heute Morgen beschäftigte.
»Hast du die vielen Unsterblichen gesehen?«, flüsterte Monja mir zu, und eine dicke Wolke ihres Parfüms wehte zu mir herüber. Sie zog sich die heute erdbeerfarbenen Lippen mit einem Stift nach, grinste, und beugte sich noch einmal zu mir herüber. »Die stehen wirklich überall. Sogar hier in der Schule!«
»Ja, die sind nicht zu übersehen.«, brummte ich und stützte mein Gesicht in die Hand. »Warum bist du so überrascht? Immerhin habensie das gestern in der Rede angekündigt und bis jetzt haben sie noch jede Drohung wahrgemacht.« Ich richtete den Blick auf die Tafel, aber bereits nach wenigen Sekunden verschwammen die mit Kreide geschriebenen Worte wieder vor meinen Augen. Mit Konzentration konnte ich heute wohl niemandem mehr dienen.
Monja sah mich skeptisch von der Seite an. »Warum bist du so schlecht gelaunt? Immerhin versuchen die Engel nur, uns zu beschützen. Gut, das ist schon wirklich eine ziemlich krasse Maßnahme, aber dafür werden wir jetzt wahrscheinlich endlich die Dämonen los. Also müssen sie diese Aktion ja auch nicht für immer machen, meinst du nicht?« Sie verschränkte die Arme unter ihrem tiefen Dekolleté, in das vor der ersten Stunde bereits beinahe unser Klassenleiter gefallen wäre. »Warts ab, wenn sie eine Weile hier sind, hast du dich daran gewöhnt und merkst, dass sie im Grunde ganz gute Kerle sind.«
Gut? Unwillkürlich wanderten meine Gedanken wieder zum Vorabend. DerUnsterbliche hatte mich nicht an seinen Kollegen verraten, und da mich heute auch noch niemand in Handschellen abgeführt hatte, war sein Mund wohl auch weiterhin verschlossen geblieben. Aber warum? Was waren seine Beweggründe? Ich wusste, dass er es nicht aus Mitleid mit mir getan hatte; das hatte ich in seinen eiskalten, blauen Augen lesen können. Umso mehr interessierte mich, warum er mich nicht verraten hatte.
»Oh Mann, an jeder Ecke diese heißen Kerle. Hast du den Blonden am Eingang gesehen? Diese Augen, dieser »Ich-bin-zu-cool-für-diese-Welt«-Blick? Gott, ich würde ihn auf der Stelle heiraten!« Monja seufzte, aber ihre Zukunftspläne wurden von dem Schrillen der Glocke unterbrochen.
Sie sprang sofort auf und zog mich mit sich nach draußen auf den Gang, ohne dass ich mich auch nur im Geringsten dagegen wehren konnte. Als die meisten unserer Klassenkameraden endlich an uns vorbei waren, sah sie mich unsicher lächelnd an. »Meinst du, ich sollte ihn ansprechen?«
»Den Typen am Eingang?« Momentan hatte ich wirklich keine Lust, mich mit solchen Lappalien auseinander zu setzen, ich hatte wirklich größere Probleme. Deswegen stöhnte ich nur und murmelte: »Wieso nicht, mach doch einfach.«
Monja ignorierte geflissentlich meinen genervten Ton, ihre grauen Augen leuchteten auf wie frisch geschliffene Diamanten. »Du hast vollkommen recht, ich tue es!« Ohne jegliche Vorwarnung hängte sie mir ihre Tasche über die Schulter, und ich hatte das Gefühl, auf der rechten Seite einzusinken. »Du musst mich anfeuern!«
»Ähm…ich komme nach, ok? Ich muss noch zum Spind und außerdem ist es eh besser, wenn ihr erst mal alleine seid, meinst du nicht?«, gab ich zu bedenken.
»Ja, wahrscheinlich hast du recht. Wenn du gleich zum Ausgang kommst, liege ich vielleicht schon in den starken Armen meines zukünftigen Mannes.« Sie lachte und hüpfte dann in Richtung Ausgang davon.
Ich drehte mich um, ging um eine kleine Ecke und schloss meinen Spind auf, um nach meinem Biologiebuch zu wühlen. Eigentlich wäre ich am liebsten nach Hause gegangen und hätte mich unter meiner
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