Der Weg des Unsterblichen
dem ich begegnete, wirkte sie mir gegenüber geduckt, unsicher, aber auch sie zeigte dieses fanatische Glänzen in den Augen. Ihre Tochter schien die einzige Person auf der Welt zu sein, die sich nicht in einen fanatischen Zombie verwandelte, wenn sie auf einen Unsterblichen traf. Aber Noékonnte man sowieso nicht mit anderen Menschen vergleichen.
»Wir gehen in mein Zimmer.« Noé hatte in der Zeit, in der ihre Mutter mich mit Blicken anhimmelte, ihre Schuhe ausgezogen und tapste auf den leuchtend grünen Socken in Richtung Treppe. »Wir haben ein paar wichtige Dinge zu besprechen, also bitte keine unnötigen Störungen, ok?«
Man konnte förmlich dabei zusehen, wie ihrer Mutter die Kinnlade nach unten klappte. Scheinbar gingen ihre Gedanken, was ihre Tochter mit einem gleichaltrigen Unsterblichen hinter verschlossenen Türen machen könnte, in eine ganz andere Richtung. »Wollt ihr vielleicht etwas trinken oder essen? Soll ich euch etwas bringen?«
»Keine Störungen.«, wiederholte Noé, ein genervtes Aufstöhnen in der Stimme, dann deutete sie mir an, ihr zu folgen. Gemeinsam gingen wir die Treppe nach oben und traten in ihr Zimmer, das direkt gegenüber dem obersten Treppenabsatz lag.
Während Noé achtlos ihre Tasche in die Ecke warf, sah ich mich um. Die Wände waren in vielen, sanften Pastelltönen angestrichen und mit hunderten Fotos behangen, die Noé mit ihrer Familie und ihren Freunden zeigten. Auf dem ausladendem Schreibtisch stand ein aufgeklappter Laptop in einem stechenden Orange, an der anderen Seite des Zimmers stand ein dunkelbrauner Kleiderschrank, aus dessen geschlossener Tür der Ärmel eines weinroten Pullovers heraushing. Über dem zerwühlten Bett thronte ein großes Fenster, durch das man einen riesigen Baum sehen konnte. Durch seine dünnen, von Frost bedeckten Zweige schien die Sonne ins Zimmer.
»Tut mir leid, die Reaktion. Wenn du irgendetwas essen oder trinken möchtest, kann ich dir natürlich noch etwas holen.« Noé sah mich entschuldigend an, während sie das Fenster aufriss und einen tiefen Atemzug nahm, als müsse sie sich beruhigen. Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Schon gut, ich habe keinen Hunger. Deine Mutter scheint nichts gegen uns Unsterbliche zu haben, was? Nach derGeschichte von deinem Vater hatte ich mit einer unfreundlicheren Begrüßung gerechnet.«
Sie seufzte, winkte ab und ließ sich auf die Bettkante fallen, beide Beine von sich gestreckt. »So war sie schon immer, aber seit dem Tod meines Vaters ist es noch schlimmer geworden. Ihrer Meinung nach hat er uns alle in große Gefahr gebracht, und jetzt denkt sie, dass sie uns vor allem dämonischen Einfluss beschützen muss.«
»Na, das klappt ja super.« Ich war selbst erschrocken über den Sarkasmus auf einmal in meiner Stimme, aber Noé war es anscheinend schon gewohnt und zuckte nur mit den Schultern. »Ich verdanke Azriel viel. Und nur weil sie jetzt unter den gleichen, fanatischen Anfällen leidet wie Monja, muss ich ihre Ansichten noch lange nicht teilen. Azriel ist mein Freund, und meine Freunde würde ich nie verraten.«
Irgendetwas an ihrem Satz traf mich in meinem Inneren. Hatte sie mich nicht vor wenigen Minuten vor ihrer Mutter noch als ihren Freund bezeichnet? Aber ich musste an meine Aufgabe denken. Ich war auf dem richtigen Weg,ich musste nur weiter vordringen. Und wenn ich von meinem Vater eine Eigenschaft geerbt hatte, dann war es zu wissen, was Menschen hören wollten.
Ich setzte mich auf den drehbaren Schreibtischstuhl, ihr genau gegenüber, und bedachte sie mit einem ernsten Blick. »Vielleicht hast du Recht. Oder vielmehr: Vielleicht hatte dein Vater Recht. Möglicherweise ist es falsch, alles immer nur schwarz-weiß zu sehen.«
Etwas unsicher sah Noé mich an. Ich durfte jetzt auf keinen Fall an Glaubwürdigkeit verlieren, also drehte ich den Kopf etwas zur Seite. »Meiner Meinung nach ist Azriel ein niederes Geschöpf, ich habe nie gelernt, die Dämonen aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Vielleicht dürstet es mich deshalb immer noch danach, ihn zu töten. Andererseits habe ich auch keine Lust darauf, so ein verstockter Idiot zu werden wie mein Vater. Ich habe schon jetzt einen Pfad betreten, in dessen Richtung er noch nicht einmal denken würde.« Und das war die volle Wahrheit.
Noés Augen leuchteten erfreut auf. »Das heißt – du könntest dir unter Umständen vorstellen, dass du mit Azriel klarkommen könntest? Dass du ihn nicht mehr töten willst?«
Bei ihren Worten
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