Der Weg des Unsterblichen
sich zumindest einbilden. Und er wirkt so, als hätte er für alles eine Millionen Pläne im Kopf, die nur darauf warten, dass er sie gegenirgendjemanden einsetzen kann.« Noé zuckte mit den Schultern, es wirkte unschlüssig. »Ich kann mir also nicht vorstellen, dass er ein sonderlich angenehmer Vater ist.«
Ich erwischte mich selber dabei, wie ich den Kopf wiegte und stellte es sofort ein. »Ich denke, dass du ihn schon ganz gut einschätzt. Und ich fürchte wirklich, dass er für alles tausend Pläne im Kopf hat. Aber was das angeht ist er sehr verschlossen. Nur seine engsten Vertrauten wissen Bescheid, und ich gehöre nicht dazu.« Meine Hand wurde zu einer harten Faust und ich zwang mich dazu, zu schweigen. Es gab nicht den geringsten Grund, ihr etwas über meinen Vater oder unser Verhältnis zueinander zu erzählen. Ich musste vorsichtig sein mit den Informationen, die ich hier achtlos an sie weitergab.
»Du bist nur zwei Jahre älter als ich.« Noé murmelte es in ihren Schal hinein, den sie sich wieder über den Mund gezogen hatte, und ich war mir nicht sicher, ob die Worte überhaupt für mich bestimmt gewesen waren. »Und schon ein Soldat, der den ganzen Tag Waffen mit sichherumträgt und auf Dämonenjagd geht. Da läuft doch irgendwas verkehrt.«
Fast automatisch griff ich an meine Waffenhalterung, in der sich seit neustem eine glänzend schwarze Pistole befand, randvoll gefüllt mit dem tödlichsten Gift der Welt. »Das ist nichts Besonderes unter uns Unsterblichen. In meinem Alter sind die meisten von uns bereits Soldaten. Es ist ein vollkommen normaler, angesehener Beruf.« Ich spürte ein plötzliches Kratzen in meinem Hals und räusperte mich. »Du kannst uns nicht mit euch vergleichen. Wir sind anders, wir sind stärker als ihr.«
»Trotzdem ist es grausam.« Sie zog ihre linke Augenbraue nach oben und schenkte mir einen missbilligenden Blick. »Wann hat deine Ausbildung zum Soldaten begonnen?«
»Wie bei allen anderen auch mit sechs Jahren, als ich in die Akademie gekommen bin.«
Sie riss ihre Augen auf und starrte dann wieder auf ihre Füße. »Sechs Jahre. Das war das Alter, in dem ich gerade einmal eingeschult wurde.«
»Ich denke, dass man das fast vergleichen kann.« Ich zuckte mit den Schultern und versenkte meine Hände in den Taschen meiner Hose. Mein Blick blieb weiter auf sie gerichtet. »Auch in der Akademie haben wir normalen Unterricht genossen, so wie ihr. Geschichte, Biologie, Mathematik. Nur am Nachmittag wurde uns beigebracht, wie wir mit Waffen und Dämonen umzugehen haben.«
»Und wann hattet ihr dann Freizeit? Hattet ihr denn wenigstens ein Wochenende?«
Diese Frage überraschte mich, aber mir war schon vor längerer Zeit aufgefallen, dass die Menschen zumeist nur am Vormittag unterrichtet wurden und in der Woche zwei freie Tage hatten. »Wozu das denn?«, hakte ich nach, ohne die Neugier komplett aus meiner Stimme verbannen zu können.
Sie fuhr zu mir herum und mich traf ein über alle Maßen erstaunter Blick. »Na hör mal! Um dich mit deinen Freunden zu treffen, um Spaß zu haben, Eis zu essen, gemeinsame Fahrradtouren zu machen!« Sie hielt inne und unterdrückte offensichtlich ein Lachen, scheinbar stellte siesich das bildlich bei mir und den anderen Unsterblichen vor. Erst nach einigen Sekunden sah sie mich wieder an. »Willst du mir wirklich sagen, dass du nie Zeit hattest, um einfach mal mit den anderen zu feiern, zu singen, zu lachen?«
Etwas verwirrt sah ich sie an, ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte. »Aus welchem Grund sollte ich das tun?«
»Dazu braucht man doch keinen Grund!« Noé blieb stehen und ich tat es ihr gleich.
»Was ist los?«, wollte ich wissen.
Sie nickte in Richtung des Hauses, das sich zu unserer Linken befand. »Wir sind da, hier wohne ich.«
Ich hob den Kopf und sah mir das grüne Gebäude an. Es sah genau so aus, wie die umstehenden Häuser auch: ein kleiner Vorgarten, den ein niedriger Zaun von der Straße trennte, eine hölzerne, aber solide wirkende Eingangstür, die durch wenige Stufen zu erreichen war, eine hübsch gestrichene Fassade, große Fenster – der typische Kleinfamilienflair.
Ich sah wieder zu Noé, die den Kopf gesenkt hatte und sehr nachdenklich vor sich hin schaute.
Ihre blassen Finger spielten mit dem bunten Schal, zupften daran.
»Was ist, willst du nicht nach drinnen gehen?«
»Doch.« Sie hob den Kopf, und ich bemerkte, dass ihre Wangen rot geworden waren. »Hast du vielleicht Lust, noch etwas
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