Der Weg des Unsterblichen
auch immer. Also Schwamm drüber.«
»Schwamm drüber?« Mir traten Tränen der Verzweiflung und des Unverständnisses in die Augen. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»War ganz einfach.« Er grinste und wandte sich halb von mir ab. »Du hast Noé nicht verraten, du hast sie vor den anderen sogar gedeckt. Plus: Du hast mich nicht getötet, obwohl du die eindeutige Gelegenheit dazuhattest. Vielleicht hat sie dich also doch nicht so falsch eingeschätzt.« Über seine Schulter grinste er mich an. »Ich mach mich vom Acker. Wenn die anderen Unsterblichen den Schuss gehört haben, stehen die sicher hier gleich alle auf der Matte. Also. Man sieht sich, Nero.«
Und schon hatte er sich in üblicher Manier in Luft aufgelöst.
Ich hingegen blieb als halbtaubes Häufchen Elend mit nicht versiegen wollenden Tränen am Boden liegen und wartete darauf, den Rest meines gelähmten Körpers wieder zu spüren. Dem Dämon, den ich hatte töten wollen, verdankte ich mein Leben. Ohne dass ich es wollte, begannen die fest gemauerten Ansichten, die mein Vater mir von Kindheit an eingeprügelt hatte, zu bröckeln.
17
Ich saß auf der Bettkante in meinem Zimmer, meine Muskeln zuckten noch und mein Herz pumpte schwer von dem Training, durch das ich mich den ganzen Tag gequält hatte. Erst seit einem Tag waren wir zurück in der Akademie, dennoch verlangten sie uns sofort wieder alles ab. Aber es hatte auch niemand einen erholsamen Urlaub erwartet.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und betrachtete die Waffe, die neben mir auf dem Bett lag. Ihr silberner Lauf glänzte im Mondlicht, das durch mein Fenster drang.
Bereits am Morgen hatte ich mir meine alte Waffe zurückgeholt und die schwarze, die vom Dämonengift nur so getropft hatte, in meinem Schreibtisch verstaut. Mein Vater hatte es beobachtet, wortlos, ohne mir eine Frage dazu zu stellen. Aber in seinen Augen hatte ich seine grenzenlose Enttäuschung erkennen können. Und dabei hatte er noch nicht einmal die feine, dunkleNarbe entdeckt, die als einziger Beweis auf meiner Handfläche zurückgeblieben war, hatte nichts von der Schmach mitbekommen, die ich über mich selbst gebracht hatte. Mich in die eigene Hand zu schießen, was für ein Anfängerfehler!
Tief in meinem Unterbewusstsein versuchte ich die Erkenntnis zu ignorieren, dass meine Hand ja irgendwie vor den Lauf geraten sein musste, und dass sie sich sicher nicht von allein dorthin bewegt hatte.
Ich stand auf und streckte mich, meinen Muskeln ging es bereits etwas besser. Das Training fiel mir immer leichter, eigentlich hatte ich es langsam wirklich nicht mehr nötig. Und schon gar nicht volle drei Wochen am Stück. Ich wollte - so schnell es ging - in die Menschenwelt zurück, ich hatte das dringende Bedürfnis mit Azriel zu sprechen. Zwar hatte ich noch nicht die geringste Ahnung, was ich ihm sagen wollte, aber ich wusste, dass ich mich bei ihm bedanken musste. Es ging ohne Zweifel auf sein Konto, dass ich hier war und nicht mehrere Meter tief unter der Erde lag. Ich hatte ihm mein Leben zuverdanken und wollte immer noch wissen, warum er das getan hatte. Zwar hatte er mir seine Gründe genannt, aber daran zu glauben würde auch bedeuten, an etwas Gutes in Dämonen zu glauben. Und ich wusste nicht, ob ich dazu schon bereit war.
Einmal noch streckte ich sämtliche Glieder von mir, bevor ich mein Zimmer auf trägen Beinen verließ und über den Flur der Akademie in Richtung Küche schlich. Der kleine Raum, der von der Decke bis zum Boden mit dunkelblauen Kacheln gefliest war, war zu meiner Überraschung nicht leer. An dem kleinen, runden Holztisch saßen bereits zwei meiner Soldatenkollegen, die wie ich vor einem Tag aus der Menschenwelt zurückgekommen waren. Obwohl man ihre Haltung weniger als sitzend bezeichnen konnte. Einer von ihnen, Gabriel, lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch, sein Freund Javan lungerte lässig über seine Stuhllehne gebeugt herum. Als ich eintrat, um mir etwas von dem immer bereit stehenden Essen zu holen, sahen beide auf.
»Nero, wie kannst du hier mit durchgedrücktem Kreuz und zufriedenem Blick durch die Flure spazieren?«, stöhnte Javan. Seine Stimme ächzte vor Erschöpfung wie eine alte Tür. »Nach diesem widerlichen Training fühlt sich mein ganzer Körper an wie Wackelpudding, ich kann keinen Meter mehr vernünftig laufen!«
Zufriedener Blick? Als zufrieden konnte man mich bei bestem Willen nicht bezeichnen. Ich hatte den Pfad der anderen Unsterblichen verlassen, um einer anderen
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