Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
durcheinanderkullerten. Trauer und Schuldgefühle wegen Kowalskis Tod und meiner Unfähigkeit, die Linien zu halten. Zorn auf Evangeline dafür, dass sie uns alle verraten hatte. Ich hatte die Gerechtigkeit, die ich Verity geschworen hatte, nicht bekommen, und das brannte tief in meiner Magengrube. Ein klaffender Schmerz wegen Luc, aber den verdrängte ich. Ich berührte meine Lippen genau in dem Moment mit den Fingern, als die unsichtbare Linie unter meiner Haut aufflammte.
Ich stolperte, aber es gelang mir, mich am eisernen Treppengeländer festzuhalten.
Sechs Meter entfernt lehnte Luc an einer der Vordertüren.
Ich musste jeden letzten Fetzen Stolz, über den ich noch verfügte, zusammenraffen, um nicht umzukehren und davonzulaufen– zu Colin, oder auf einem anderen Weg in die Schule, oder ans Ende der Welt. Die Versuchung ließ mich schwindlig werden. Stattdessen drückte ich die Schultern durch und ging weiter die breiten Steinstufen hinauf, an ihm vorbei.
» Das war ja heimelig«, sagte er, sein Ton wie eine Peitsche. » Hat dich ja kaum Zeit gekostet, Ersatz zu finden, was?«
Ich zuckte zusammen. » Hau ab, Luc. Wir sind fertig miteinander.«
Er klopfte mir auf den Unterarm. » Das hier sagt etwas anderes.«
Ich riss mein Handgelenk weg, als ob es brannte, und er rieb sich die Stelle an seinem eigenen Unterarm, wo die Kette uns verbunden hatte.
» Die Sturzflut hat begonnen«, sagte er. » Sie schreitet langsam voran, bisher nur einzelne Löcher hier und da, aber sie beschleunigt sich.«
Er sah so gehetzt aus wie in der ersten Nacht im Krankenhaus, als er mich zu Verity mitgenommen hatte. Jetzt verstand ich es– die Sturzflut nicht aufhalten zu können bedeutete für ihn mehr als der Tod einer Freundin. Es bedeutete, dass seine ganze Welt bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert werden und sein ganzer Daseinszweck sich in Rauch auflösen würde. Er würde wahrscheinlich überleben, aber ich war mir nicht sicher, ob er wirklich leben würde.
» Es tut mir leid.« Das war alles, was ich ihm bieten konnte, und es war nicht annähernd genug. » Alles. Aber ich kann dir nicht helfen.«
» Du bist immer noch das Gefäß«, sagte er. » Ob es dir gefällt oder nicht, du bist jetzt die Auserwählte. Wir könnten versuchen…«
» Ich kann nicht weiter versuchen, sie zu sein«, sagte ich. » Das wird mich umbringen, Luc, so sicher, wie die Magie es täte.«
Er setzte zum Sprechen an, aber Lena kam auf uns zugerast und blieb nur ein paar Zentimeter entfernt stehen. Sie bedachte ihn mit einem sichtlich wohlwollenden Nicken. » He! Der geheimnisvolle Typ! Jetzt wird mir alles klar.«
» Er ist nicht…«
» Egal. Kann ich dich sprechen?«
Es war leichter, mich von Lena mitschleifen zu lassen, als mich zu verabschieden, und als ich mich umsah, war Luc verschwunden.
» Was ist?«, fragte ich, als sie wie ein F5-Tornado den Gang entlangsauste. » Lena, entspann dich!«
» Machst du Witze? Hast du irgendeine Ahnung, was du versäumst?«
» Eigentlich nicht.«
» Dein Schicksal, Mo. Es steht bereit und wartet nur auf dich.«
» Was?« Ich ließ die Tasche fallen, und Lena reichte sie mir zurück und schleppte mich dann weiter den Flur entlang.
» Hallo? Die Vertreterin der NYU ? Sie ist gerade eingetroffen, und du bist wieder einmal nirgendwo zu finden? Der Typ ist ja sexy, aber jetzt mal weiter im Text!« Sie blickte finster drein, und endlich drang das, was sie sagen wollte, bis in mein Gehirn vor.
» Es ist Besuchstag.«
» Was ist bloß mit dir los?«, flüsterte sie grimmig. » Ich stehe vor dem Beratungslehrerzimmer, und Jill McAllister spaziert herein, nur zu gern bereit, mit der Vertreterin zu plaudern. Sie ist da drinnen und macht einen guten Eindruck, Mo, und du siehst aus wie jemand, dem das völlig egal ist. Sie stiehlt dir deinen Platz!«
» Wie sehe ich aus?« Wir blieben an der Ecke vor dem Beratungslehrerzimmer stehen. Ich strich mir wirkungslos übers Haar und wünschte, ich hätte schöne Schuhe statt meiner üblichen ausgetretenen Birkenstocklatschen angehabt.
Lena schürzte die Lippen. » Soll ich ehrlich sein? Mach eine ganz beiläufige Bemerkung darüber, dass du noch spät auf warst, um an der Schülerzeitung zu arbeiten. Dann siehst du zwar immer noch beschissen aus, aber wenigstens zu einem guten Zweck.«
» Wie sieht Jill aus?«
» Wie jemand von einem Poster mit Stellenanzeige.«
» Na toll.« Ich holte tief Luft. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich der Mafia
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