Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
habe viel von meiner Familie geerbt. Ich sehe wie mein Vater aus, bin aber schüchtern wie meine Mutter. Ein Teil davon ist genetisch bedingt, ein Teil Umwelteinflüssen geschuldet.« Und einige Dinge spotteten jeder Beschreibung– wie etwa, dass Verity als Gefäß auserwählt worden und es ihr gelungen war, das an mich weiterzugeben. » Aber im Endeffekt spielt das keine große Rolle. Ich glaube, dass es entscheidend ist, sich als die anzunehmen, die man ist, ganz gleich, wie man zu ihr geworden ist. Sich darauf einzulassen, ohne Vorbehalte oder Zögern. Denn wenn man sich als die angenommen hat, die man ist, dann ist das keine Beschränkung mehr. Es ist eine Kraftquelle.«
Meine eigenen Worte im Stil eines Bewerbungsaufsatzes ertönen zu hören, sorgte dafür, dass ich sie besser verstand. Gegen meine Familie und die Sturzflut anzukämpfen, machte alles nur noch schlimmer. Wenn ich meine Rolle einfach akzeptieren konnte– in meiner Familie und in der Prophezeiung–, dann würde das Chaos vielleicht an mir vorübergehen, und ich würde endlich die Chance bekommen, ein Leben zu führen, mit dem ich glücklich war.
» Ich muss jetzt los.« Ich stand auf; plötzlich hatte ich es eilig wegzukommen. » Es war sehr nett, Sie kennenzulernen.« Ich redete Unsinn und stieß meinen Stuhl um, als ich der Vertreterin die Hand schüttelte und rückwärts zur Tür ging. » Die NYU ist eine großartige Universität– meine Traumuniversität, das war sie schon immer–, und ich glaube, ich wäre ein enormer Gewinn für die Studentenschaft. Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, sich mit mir zu treffen.«
Sie lehnte sich verblüfft zurück. Wahrscheinlich ergriffen nicht viele hoffnungsvolle Bewerberinnen mitten im Vorstellungsgespräch die Flucht. » Mo, das Frühentscheidungskomitee tritt schon in ein paar Wochen zusammen. Ich besuche St. Brigid’s dieses Jahr nur einmal. Bist du sicher, dass du jetzt gehen möchtest?«
Es war deutlich, was sie mir damit sagen wollte. Wenn ich ging, würde ich meine Chance auf eine vorzeitige Zulassung und vielleicht auf die NYU überhaupt aufgeben. Aber wenn ich das Versprechen brach, das ich Verity gegeben hatte, dann würde ich nie in der Lage sein, nach New York zu gehen, selbst, wenn ich angenommen wurde. » Glauben Sie mir, ich würde zu gern bleiben. Aber es gibt etwas, das ich erledigen muss, und es kann nicht warten. Vielen Dank noch einmal!«
» Mo!«, sagte Schwester Donna und lief hinter mir her. » Um Himmels willen, Kind, was tust du da?«
Jill lächelte und wedelte mit den Fingerspitzen. » Wir sehen uns, Mo. Es hat Spaß gemacht!«
Die Kapelle der St.-Brigid-Schule war ein eigenes Gebäude, eine kleine steinerne Kirche einen halben Block von der eigentlichen Schule entfernt. Sie war ruhig und kühl und meistens verlassen, da sie speziellen Messen vorbehalten war – das perfekte Versteck. Ich rannte dorthin, kramte mein Handy aus der Tasche hervor und wünschte mir, ich könnte größeren Abstand zwischen mich und die Schule bringen. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor die Schule meine Mutter anrief – und meine Mutter Colin.
Drinnen vermischte sich tröstlich der Geruch von Bienenwachs mit dem von Weihrauch, und ich ließ mich in die vorderste Kirchenbank fallen.
Es war lange her, dass ich um irgendetwas Größeres als um eine gute Note in der Klassenarbeit gebetet hatte, und noch länger, dass meine Gebete erhört worden waren, und so formulierte ich keine richtigen Worte– ich saß nur auf der Kirchenbank, das glatte, abgegriffene Holz unter den Händen, und flehte um Zeit, und Hoffnung, und eine ordentliche Dosis Wunder.
Dann nahm ich das Handy und rief Luc an. » Du kannst mich doch dank der Bindung finden, oder?«
» Klar«, sagte er. » Überall.«
» Dann finde mich.«
Ich lehnte mich zurück, um zu warten; die Hände zuckten auf meinem Schoß, und ich hielt den Blick auf den mit Leintuch bedeckten Altar gerichtet. Einen Moment später ertönten Schritte hinter mir.
» Das hätte ich mir denken sollen«, sagte Colin. Ich wirbelte herum und stieß mir den Ellbogen an der Rückenlehne der Kirchenbank. » Hast du jemals getan, was ich dir gesagt habe? Auch nur ein einziges Mal?«
» Wie…«
» Dachtest du, ich würde dich einfach absetzen und wegfahren? Nach allem, was geschehen ist? Magie hin oder her, mit dem Unternehmen ist noch nicht alles vorbei, noch längst nicht.« Er sah sich in der Kapelle um, die Daumen in die
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