Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
gemacht.«
Er zuckte mit den Schultern. » Warum hast du diese Rede gehalten?«
» Mrs. Grey hat mich darum gebeten.«
Ein schiefes Lächeln legte sich um eine Seite seines Mundes, als er sich umdrehte. » Du magst es nicht, wenn Menschen dich ansehen. Schüchtern wie eine Maus, hat Vee gesagt. Sie hat mir erzählt, dass du die einzige Person bist, die sie kennt, die sich so sehr anstrengt, außerhalb des Rampenlichts zu bleiben, wie die meisten anderen es tun, um darin zu stehen.«
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Der Gedanke, dass sie ihm so viel über mich erzählt hatte, machte mich verlegen– und es war zugleich unfair. Ich wusste nichts über ihn. » Und?«
» Und deshalb wolltest du dich nicht da oben hinstellen. Aber du hast es getan, und du hast diese Dinge gesagt, damit ihre Familie sich besser fühlt.« Er lächelte wieder, bitter und wissend, während er auf mich zuging. » Du glaubst eigentlich nicht, dass du Verity in deinem Herzen oder sonst irgendwo am Leben erhalten kannst. Aber du wusstest, dass es ihrer Familie helfen würde, dich das sagen zu hören.«
Ich hätte ihm gern gesagt, dass er sich irrte, aber ich konnte es nicht. In diesem Moment, nachdem er mich so gründlich analysiert hatte, dass er mir seine Schlüsse mit Satinschleife als Geschenk verpackt hätte überreichen können, hasste ich ihn. Nicht dafür, dass er mich so klar durchschaute– obwohl das schon reichte–, sondern dafür, dass er wusste, wie bedeutungslos meine Worte gewesen waren.
» Es hat funktioniert«, erklärte er leise, bevor ich es abstreiten konnte. » Was du gesagt hast. Es hat ihnen ein klein wenig Trost gespendet, als sie dachten, es gäbe keinen. Ich habe das Gleiche getan– das ist alles.« Er streckte eine Hand aus, als ob er mein Haar berühren wollte, und ließ sie dann wieder sinken. Es war schwieriger, wissend zu sein, derjenige zu sein, für den es keine Hoffnung und keinen Trost gab. Er wusste es auch, und es trennte uns von allen anderen in der Kirche.
Jetzt war es an mir, den Blick abzuwenden. Ich wollte dieses Gefühl der Verbundenheit nicht, besonders nicht mit ihm. Schlimm genug, dass ich auf dem besten Weg war, genauso dreist zu lügen wie er. Ich stand ruckartig auf, drängte mich an ihm vorbei zum Mausoleum und erkannte, was er angestarrt hatte.
Verity.
Vom Hügel blickte man auf ihr Grab und den kleinen, flachen Teich daneben. Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, und meine Familie war wahrscheinlich auf der Suche nach mir. Aber das Rechteck nackter, schwarzer Erde zu sehen, ließ alles wieder von Neuem schmerzen, so schneidend und heftig wie in dem Moment, in dem ich ihre Leiche gesehen hatte. Ich schlang die Arme um mich, um den Schmerz abzuwehren, atmete die feuchte, nach Rosen duftende Luft ein und wartete, bis das Bedürfnis zu schreien sich gelegt hatte.
Und dann verschob sich etwas.
Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sich etwas bewegte. Ich richtete die Augen darauf, da ich Angst hatte, dass eine allzu plötzliche Bewegung es verschwinden lassen würde. Am Rande des Waldes, der den Friedhof begrenzte, erschienen vier in Umhänge gehüllte Gestalten; die vorderste war in ein blasses Kornblumenblau gekleidet. Das Flattern der Gewänder hatte meine Aufmerksamkeit erregt. So zielgerichtet wie eine Hochzeitsprozession schritten sie auf den Teich zu, geführt von der Gestalt in Blau. Jeder von ihnen folgten weitere in Roben gekleidete Personen in ordentlichen Reihen.
Die Gestalt in Blau kniete majestätisch und feierlich am Rand des Teichs nieder, streckte eine Hand nach dem Wasser aus und ließ sie über der Oberfläche schweben. Die anderen drei taten es ihr nach. Als die Brise auffrischte, funkelte das Licht grell auf den Millionen winziger Wellen, als stünde die Wasseroberfläche in Flammen. Beinahe ohne es zu bemerken, begann ich den Hügel hinunterzugehen; das wollte ich mir aus der Nähe ansehen.
Luc drehte mich ruppig herum und zerrte mich hinter das Mausoleum.
» He!« Ich riss mich los. » Lass mich gehen!«
» Was tust du da?«, zischte er.
» Ich muss da hinunter! Wer sind diese Leute? Kennst du sie?« Ich versuchte, mich an ihm vorbeizudrängen, aber er versperrte mir den Weg. » Lass mich los!«
» Beruhig dich«, blaffte er. Ich schlug nach ihm. Mit einem verächtlichen Schnauben packte er mich an den Handgelenken und murmelte etwas, das sicher nicht sehr schmeichelhaft war.
» Ich will sie sehen!«
» Wen?«
» Die Leute! Am Wasser! Du
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