Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
stand nun der erste Kerl seit siebzehn Jahren, mit dem ich nicht verwandt war, in meinem Schlafzimmer, und ich wollte nichts anderes, als dass er wieder ging.
Er klappte das Handy auf und begann, Nummern einzutippen. » Wann gehst du morgens zur Schule los?«
» Viertel vor sieben.« Ich ahnte seine nächste Frage voraus. » Ich habe um drei Schulschluss, aber normalerweise ist danach noch etwas los. Es ist etwas unberechenbar.«
Er sah das Telefon stirnrunzelnd an und zuckte mit den Schultern. » Gut. Ich werde um drei an der Schule sein. Verlass das Gebäude nicht, bevor du mich siehst. Wenn sich irgendetwas ändert, rufst du an.« Er drehte das Handy zu mir um. » Siehst du? Kurzwahlnummer eins.«
» Das war…« Verity. Ich klappte den Mund hörbar wieder zu.
Wie konnte es so einfach sein, sie zu löschen? Ich ließ mich wieder aufs Bett sinken; der Atem pfiff mir in der Brust.
Colin hielt mir das Telefon hin, aber ich winkte zum Schreibtisch hinüber und hielt das Gesicht von ihm abgewandt.
Ich musste mir allerdings gar nicht die Mühe machen, meine Reaktion zu verheimlichen. Er ignorierte mich weiterhin und musterte das Zimmer. » Wenn sich irgendetwas ändert, rufst du an. Wenn dir irgendetwas seltsam vorkommt, rufst du an. Wenn es Ärger gibt, wenn du Hilfe brauchst…«
» Ich verstehe schon. Aber was ist, wenn du bei der Arbeit bist?«
Nun sah er mich an. » Du bist meine Arbeit.«
» Was ist mit…«
» Ich gehe auf den Bau zurück, wenn wir entscheiden, dass du in Sicherheit bist.«
» Gut, ich habe mich schon entschieden.«
Er lachte; es klang leise und warm. » Das ist nicht deine Entscheidung, Kid.«
Gut, es reichte. » Hör auf, mich ›Kid‹ zu nennen!« Er regte mich auf– das Handy, und die Veranda, dass er noch nicht einmal bemerkt hatte, dass sie etwas Besonderes war, und dass er dachte, er könne einfach für mich entscheiden, was sicher war und was nicht. Als ob ich nicht schon genug Leute in meinem Leben gehabt hätte, die das taten! Aber das zu erklären hätte eine Energie erfordert, über die ich nicht verfügte. Gegen den dämlichen Spitznamen ließ es sich leichter ankämpfen. Außerdem war in letzter Zeit nichts an meinem Leben auch nur ansatzweise kindlich.
Er hielt inne und sah mich geradeheraus an. » Entschuldige.«
Es klang aufrichtig, aber ich fühlte mich kein bisschen besser. Das Problem war nicht allein, dass es absolut demütigend war, das letzte Schuljahr mit einem Babysitter zu beginnen – selbst wenn es ein so gefährlicher, fähiger und durchaus ansehnlicher wie Colin war. Herauszufinden, wer Verity getötet hatte, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, würde beinahe unmöglich sein, und er würde sich umdrehen und Onkel Billy alles erzählen.
» Also sollst du meinem Onkel alles berichten, was ich so tue, ja?« Ich spielte mit dem Schmuckkästchen aus Walnussholz auf meinem Nachttisch herum und ordnete den Modeschmuck, der sich auf dem Deckel drängte. Es kostete mich Mühe, nicht den Wäschekorb anzustarren, in dem ich die Schneekugel vergraben hatte.
» Ich soll dich beschützen.«
» Also ist das Ausspionieren nur eine Zusatzleistung?«
» Versuchst du, irgendetwas zu verbergen?«
Nein, ganz im Gegenteil. Ich versuche etwas zu finden. Ich drehte mich um und schenkte Colin mein bestes Sonntagslächeln, so pflichtergeben und ausdruckslos, dass es meiner Mutter alle Ehre gemacht hätte. » Sehe ich aus, als ob mein Leben wahnsinnig interessant wäre? Bis letzte Woche hatte ich ein sehr langweiliges Leben.« Ich hielt inne und dachte an meinen absolut ereignislosen Sommer zurück. » Ich vermisse es.«
Die Collage an der Wand, ein Geschenk von Verity zu meinem sechzehnten Geburtstag, zog seinen Blick an. Er musterte sie mit derselben Intensität wie alles andere. Ich war erleichtert, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr mir galt. So war es leichter zu atmen.
» Das mit deiner Freundin tut mir leid«, sagte er.
» Glaubst du, dass die Polizei ihre Mörder finden wird?«
Er sah mir noch einen Moment lang in die Augen, dann wandte er sich ab und blickte sich im Zimmer um. Er zögerte kurz und betrachtete erneut die Collage. Sie enthielt ein Foto von Verity und mir von einem der Freitage, an denen wir beieinander übernachtet hatten: Frisuren und Make-up waren perfekt, aber wir trugen alte T-Shirts und Schlafanzughosen aus Flanell. Verity warf sich für die Kamera in Pose, die Wangen eingezogen, die Lippen zum Schmollmund eines Pin-up-Girls verzogen,
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