Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
sollte. Die Wahrheit würde niemanden befreien. Ich konnte Tess nicht helfen, Billy aber konnte es. Es stellte sich noch nicht einmal die Frage, für wen Colin sich entscheiden würde. Was für ein Mensch hätte auch von ihm verlangt, es zu tun?
» Es wird Zeit zu gehen«, sagte ich und rang darum, meine Stimme unbewegt zu halten.
» Schon?« Er nahm mir den Ordner aus der Hand und überflog ihn. » Sie ist in Zimmer 433. Willst du sie nicht sehen?«
Für einen Tag hatte ich genug gesehen.
Kapitel 33
» Du planst etwas«, sagte Colin, als ich am Abend den Tisch deckte. Es war mir gelungen, ihm den ganzen Nachmittag aus dem Weg zu gehen, indem ich ihm schnell eine SMS geschickt hatte, als Luc und ich aus dem Pflegeheim zurückgekehrt waren. Seitdem war er hier unten gewesen und hatte die letzten Schäden repariert, die der Einbruch hinterlassen hatte, während ich mich in meinem Zimmer versteckt hatte.
» Warum sagst du das?« Ich legte Servietten beiseite und zog sie genau zurecht, um das Gesicht abgewandt halten zu können.
Er zählte die Gründe an den Fingern ab. » Erstens hast du dich mit Luc heute Nachmittag aus dem Slice weggeschlichen, Gott allein weiß, wohin. Das ist nie ein gutes Zeichen. Zweitens bist du nach Hause gekommen und hast so getan, als hätte der Streit mit deiner Mutter nie stattgefunden. Du hast irgendwelche Hintergedanken und musst sie dir deshalb gewogen halten. Drittens …« Er brach ab, und ich blickte neugierig auf.
» Was?«
» Ich kann geradezu sehen, wie sich die Räder in deinem Gehirn drehen. Hat das etwas mit den Bögen zu tun?«
Ich huschte um den Tisch herum, legte das Besteck bereit und versuchte, es ihm zu erklären, ohne mir in die Karten blicken zu lassen. » Ich habe so einiges in Bewegung gebracht, nicht wahr? Die Russen, Billys Versuche, Marco Forelli seine Loyalität zu beweisen? Sogar Kowalskis Fall, weil alle glauben, dass Billy und die Mafia etwas mit seinem Tod zu tun haben.«
» Du musst nur noch ein bisschen länger in Deckung bleiben«, sagte er. » Alles über dich hinweggehen lassen. Wir werden dich nach New York bringen, dann bist du alles los.«
» Ich werde es nie los sein. Das weißt du. Ich wollte die Wahrheit, Colin. Jetzt muss ich mich entscheiden, was ich damit anfange.« Ich erwähnte nicht, dass es seine Wahrheit war, die ich heute entdeckt hatte.
Bevor er antworten konnte, kam meine Mutter geschäftig zurück in die Küche geeilt. Sie ging mit dem Abendessen heute aufs Ganze, was ihrer üblichen Reaktion auf Stress entsprach: Kochen, Putzen, alles so perfekt wie nur möglich machen.
» War es schön mit Lena?«, fragte sie und warf einen Blick in den Ofen.
» Mit Lena?«, fragte ich. Colin stieß mich an. » Ach ja, absolut, ja. Es war toll.«
Die Erkenntnis, dass er eine Ausrede für mich erfunden hatte, während ich in seiner Vergangenheit herumgestochert hatte, bescherte mir vor Beschämung einen schalen Geschmack im Mund.
» Sie glaubt bestimmt, dass sie den anderen in der Schule jetzt eine ganz schöne Geschichte zu erzählen hat.« Meine Mutter schüttelte die Salatsoße kräftiger als nötig.
» Lena wird niemandem etwas erzählen. Sie ist meine Freundin.«
Meine Mutter entspannte sich. Ihre Hände zitterten schon fast nicht mehr, als sie die Soße über den Salat goss und die Croûtons darauf streute. » Das freut mich. Du musst ein, zwei neue Freundinnen finden wie diese Jenny. Du hattest doch niemanden mehr, seit …«
Erstaunlich, bei wie vielen Dingen meine Familie darauf getrimmt war, nichts zu erwähnen. Ungezwungene Gespräche gab es bei uns einfach nicht.
» Was ich dich fragen wollte … Konntest du meinen Computer reparieren?«
» Ja, heute Nachmittag. Jetzt sollte alles wieder bereit sein. Ich hatte aber die Backup-Disks nicht, also konnte ich die Dateien nicht wiederherstellen.«
Sie winkte ab. » Um die Backups kümmere ich mich am Montag. Sie sind im Restaurant.«
Ich wusste, dass sie dort waren, hinter Schloss und Riegel. All ihre Finanzen, aber auch die Buchführung meines Onkels.
» Du warst in letzter Zeit so schwer beschäftigt.«
Ich dachte an die alte Festplatte, die ich mit Isolierband an die Rückseite meiner Kommode geklebt hatte, so dass meine Mutter sie nicht finden würde, den Besuch im Pflegeheim, meine Zusammenarbeit mit den Quartoren. » Ja. Aber ich habe nachgedacht …« Ich warf Colin, der seine Hände zu einer Lass-mich-da-heraus-Geste erhoben hatte, einen raschen Blick zu. » Ich
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