Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
versicherte mir Luc, aber seine Stimme klang angespannt. » Fast nichts.«
» Sieh doch. Zähl sie, Luc. Wie viele Tropfen?« Es war wie in der alten Geschichte, in der ein Reiskorn auf das erste Feld eines Schachbretts gelegt wird – und dann zwei auf das zweite, vier auf das dritte … Beim letzten Feld ist der Reishaufen höher als der Mount Everest. Diese Tropfen von Magie waren wie Reiskörner, und ich würde tot sein, bevor wir auch nur die zweite Hälfte des Schachbretts erreichten.
Dominic machte eine ruckartige Kopfbewegung, um anzuzeigen, dass wir als Nächste an der Reihe waren, aber Luc blieb stehen, wo er war, und musterte seinen Vater mit schierem Abscheu.
» Ihr seid an der Reihe, mein Sohn«, sagte Dominic. Die Worte klangen oberflächlich freundlich, darunter aber herrisch. Die Menge regte sich ungeduldig, und Dominic senkte die Stimme zu einem Zischen. » Zollt ihr Tribut.«
Mit zusammengebissenen Zähnen zog Luc mich zum Spiegelbecken. » Halte durch«, sagte er, als wir näher kamen. » Es wird gut gehen, das schwöre ich.«
Ich war mir nicht sicher, ob er das tatsächlich versprechen konnte. Ich hatte Magenkrämpfe und schlang mir einen Arm um die Taille.
Das Wasserbecken war gut drei Meter lang, aber weniger als einen Meter breit – ein schmales Rechteck aus schwarzem, glasähnlichem Stein, Obsidian vielleicht oder Onyx. Das Wasser war so unbewegt, dass unser Bild von der Oberfläche wie von einem Spiegel reflektiert wurde: Luc kochte vor Wut, ich war blass und verstört. Ich erkannte mich selbst kaum wieder, und als ich es tat, war ich entsetzt. Ich hatte in den letzten Monaten zu hart gearbeitet und zu viel erlebt, um noch das verängstigte Mädchen dort im Wasser zu sein. Es kostete mich einige Anstrengung, den Blick davon loszureißen und stattdessen die Menge zu mustern. Die Leute begannen zu murren, und ihre Gesichter verdüsterten sich vor Argwohn.
Constance stand ein paar Meter von der ersten Reihe entfernt, die silbrige Kapuze kaum vorgezogen. Sie versuchte, gelangweilt auszusehen, und hatte die Oberlippe vorgeschoben, aber ihre Augen waren weit aufgerissen und nahmen alles in sich auf. Neben ihr blickte Niobe gereizt drein – und so, als ob es sie nicht wunderte, dass ich für die Verzögerung verantwortlich war.
Mit steifen, ruckartigen Bewegungen streckte Luc die Hände aus und wartete darauf, dass ich es ihm nachtun würde. Als ich mich nicht rührte, stieß er mich an und erwartete, dass ich seinem Vorbild folgen würde.
Ich konnte es nicht.
Es war nicht die Furcht, die mich davon abhielt, und auch nicht der Zorn über Dominics Worte. Ich konnte mich nicht vor diesen Leuten aufbauen und so tun, als ob ich um Evangeline trauerte. Ich konnte der Frau, die meine beste Freundin getötet hatte, weder tatsächlich noch symbolisch Tribut zollen. Auch noch so viele Vernunftgründe, Argumente und finstere Blicke von Dominic konnten das nicht bewirken.
Das Murren der Menge wurde lauter.
» Mouse, was hält dich auf?« Luc sprach, ohne die Lippen zu bewegen. » Du kannst das.«
» Ich kann nicht .«
Er hielt inne und musterte mein Gesicht; seine eigene Miene war bekümmert. » Nun, ich muss. Es tut mir leid.« Er holte Luft und beschwor die Magie herauf.
Die Welt schien hochauflösend zu werden, meine Sehkraft übermäßig scharf und klar, und Lucs Worte klangen, als würde er im Innern meines Kopfes sprechen, als die Magie mit einem Knistern auf das Wasser unter uns traf. Ich spürte die Kraft durch unsere Verbindung rasen, und auch, dass sie von der Kette absorbiert wurde, statt mich zu treffen. Es war unsere Bindung, die mich schützte, wie immer, wenn Luc einen Zauber wirkte.
Ich fühlte mich unverwüstlich, schwindelig vor Erleichterung. Wenn wir gingen, bevor die anderen Bögen am Spiegelbecken an die Reihe kamen, würde ich in Sicherheit sein. Und dann rief jemand in der Menge: » Die Flache hat ihr keine Ehre erwiesen.«
» Zur Hölle«, murmelte Luc, und ich musste ihm voll und ganz zustimmen.
Das Murren und Grollen der Menge steigerte sich, weitere Rufe erklangen, manche von so weit hinten, dass die Wörter unmöglich zu verstehen waren. Ihr Ton dagegen war nicht unverständlich – Zorn, der vom Schwelen ins Kochen überging. Der Protest weitete sich aus: Ich war ein Eindringling, der ungerechtfertigt geheiligten Boden betreten hatte und nun Evangelines Trauerfeier der Lächerlichkeit preisgab.
Ohne Vorwarnung ertönte ein Knall über den Köpfen der Menge,
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