Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
warfen beide einen Blick zu Jills Tisch, an dem sie umgeben von der Schar ihrer engsten Freundinnen stand, die empört schnatterten. Sie selbst sagte nichts, aber als sie uns bemerkte, wurde ihr Gesichtsausdruck rachsüchtig und berechnend.
» Irgendwie glaube ich nicht, dass sie eine ist, die auch mal die Klappe hält«, sagte Lena.
Kapitel 16
Lena und ich gingen in der Mittagspause zurück ins Chemielabor.
» Es tut mir leid«, sagte ich. » Ich wollte dir nicht noch mehr Arbeit machen.«
Sie strich sich einen Fussel vom Pullover. » Jill McAllister ist eine blöde Ziege. Sie hat es auf dich abgesehen, aber ich bin auch nicht gerade ihr Liebling.«
» Kennt sie deine Familie?«
» Nein.« Lenas Ton machte deutlich, dass sie nicht näher darauf eingehen würde. » Aber tu mir einen Gefallen, ja? Wenn sie das nächste Mal auf dich losgeht, dann verfehl sie nicht.«
» Ich werde mein Bestes tun.«
Dr. Sanderson blickte von einem Stapel Papiere auf und winkte uns an ihren Tisch. Bevor wir auch nur unsere Schutzbrillen aufsetzen konnten, knisterte die Gegensprechanlage, und die blecherne Stimme der Schulsekretärin bestellte mich ins Büro.
Dr. Sanderson seufzte schwer. » Geh nur. Dann müsst ihr das Experiment eben morgen in der Mittagspause beenden – es sei denn, du würdest diesmal lieber allein arbeiten, Lena?«
Eine Sekunde lang zögerte Lena und strich sich mit einer Hand über ihren dicken Pferdeschwanz. Ich versuchte, mich nicht gekränkt zu fühlen – es war meine Schuld, dass wir das Experiment noch einmal durchführen mussten, und es war nicht so, als ob sie mir irgendeinen Gefallen schuldete. Ich war nicht darauf aus, mir eine neue beste Freundin zuzulegen, vor allem deshalb nicht, weil ich bald umziehen würde. Außerdem war mein Leben kompliziert. Und gefährlich. Lena würde nur eine Person mehr sein, der ich etwas verheimlichen musste, und was für eine Art Freundschaft wäre das gewesen? Aber es kränkte mich dennoch. Nur ein wenig.
» Schon gut«, sagte ich. » Bleib hier.«
» Nee. Morgen Mittag ist mir auch recht.«
Für jemanden wie Jill wäre das eine Kleinigkeit gewesen. Für mich war es ein lichter Moment an einem bedrückenden Tag.
Ich war es gewohnt, ins Büro hinuntergerufen zu werden. Ich erledigte ständig etwas für die Lehrer oder war mit irgendeinem Auftrag für die Schülerzeitung unterwegs, aber das hallende Treppenhaus kam mir heute beklemmend vor. Wenn Leute an mir vorbeigingen, erschien ein Ausdruck des Wiedererkennens auf ihrem Gesicht, bevor sie sich schnell abwandten, als ob sie Angst hätten, dabei ertappt zu werden, mich anzustarren. Sicher hatte Jill Gerüchte über die Chemiestunde in Umlauf gebracht und dabei ihre eigene Version der Geschichte erzählt.
Ich blieb vor dem Büro stehen, um meinen Pullover zurechtzuziehen und mir das Haar glattzustreichen. Ich trug es jetzt häufiger offen und etwas lockiger als sonst, aber in Augenblicken wie diesem kam mir das eher schlampig als lässig vor. Ich holte Atem, zog die Tür auf und trat ein.
Das Büro roch nach tropischem Lufterfrischer von der Art, die man in eine Steckdose steckte, und die Sekretärin sah mich hinter der Haupttheke hervor an. » Geh durch. Du wirst im Büro des Paters erwartet.«
Der Flur war mit Bildern aller Abschlussklassen aus über siebzig Jahren geschmückt. Trotz der zeittypischen Kleidung – Handschuhe bis zum Handgelenk, fließende Hippie-Baumwollkleider, Schulterpolster wie bei Footballspielern – wirkte jede Gruppe gleich glücklich und munter, bereit für alles, was die Welt ihr bringen würde, zuversichtlich, es bewältigen zu können. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich so zu fühlen, wenn ich St. Brigid verließ. Der einzige Ausdruck, den die Kamera an meinem Abschlusstag einfangen würde, wäre völlige Erleichterung.
Wenn ich nicht vorher von der Schule flog.
Ich klopfte an die offene Tür. » Herein«, sagte Pater Armando. Er erhob sich hinter dem massiven Walnussschreibtisch, um mich zu begrüßen. Schwester Donna stand neben einem der weinroten Sessel und winkte mich zu seinem Gegenstück.
» Ich nehme an, du weißt, warum wir dich hier heruntergerufen haben, Mo«, fuhr der Pater fort, nachdem wir uns alle niedergelassen hatten.
Nicht, um mich zur Schülerin des Monats zu ernennen, da war ich mir ziemlich sicher. Die Tage waren vorbei. Hatte Jill eine förmliche Beschwerde wegen des Vorfalls heute im Chemielabor eingereicht? Das glaubte ich nicht. Sie hatte es
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