Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
tot am Tatort aufgefunden worden, ein achtjähriger Junge war auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Ein sechsjähriges Mädchen hatte massive Kopfverletzungen davongetragen und war bewusstlos. Und noch ein Junge, elf, der unter Schock gestanden hatte und zusammengeschlagen worden war, von dem man aber annahm, dass er überleben würde.
Übelkeit stieg in mir auf, und ich rollte mich eng zusammen und versuchte, sie zu unterdrücken. Das Bild eines Elfjährigen, allein im Krankenwagen, allein in seinem Schmerz, wollte einfach nicht weichen. Und Billy hatte es mir gesagt. Ein Albtraum. Billy hatte die Wahrheit gesagt, und ich hatte ihm nicht geglaubt, weil ich gedacht hatte, dass nichts so schlimm wie der Mord an Verity sein könnte.
Wie dumm von mir zu denken, dass ich ein Monopol auf Kummer hätte.
Als ich umblätterte, zitterten meine Finger so heftig, dass das Papier riss. Ich bemühte mich verzweifelt, nicht den Katalog von Verletzungen durchzulesen, die Colin und seine Geschwister davongetragen hatten, aber es hatte keinen Zweck. Ich würde sie ohnehin für sehr, sehr lange Zeit vor mir sehen.
Ein Zeitungsbericht – ein kurzer, nur ein paar Absätze, auf Seite zwölf versteckt, über einen Wohnungseinbruch, bei dem eine Mutter und ihr Sohn zu Tode geprügelt worden waren. Die Überlebenden, ein Junge und ein Mädchen, waren der Obhut entfernter Verwandter anvertraut worden. Keine Erwähnung eines Stiefvaters oder sonst irgendeines Anwesenden am Tatort.
Ich drückte den Rücken gegen die Wand und versuchte, die Informationen zusammenzusetzen, die ich vor mir hatte. Colins Stiefvater hatte die ganze Familie misshandelt. Ich erinnerte mich an das Gitterwerk von Narben auf Colins Rücken, und der Magen drehte sich mir um, als ich mir vor Augen rief, wie groß Raymond Gaskill, ein ungeschlachter Schlägertyp, auf seinem polizeilichen Karteifoto gewirkt hatte und wie klein ein elfjähriger Junge war. Wie unglaublich, entsetzlich unaufhaltsam musste er auf ein sechsjähriges Mädchen gewirkt haben?
Warum waren Colin und die anderen Kinder nicht in eine Pflegefamilie gekommen? Warum saß Gaskill nicht im Gefängnis? Die Notizen der Sozialarbeiterin waren auf wenige Tage vor dem Sanitäterbericht datiert. Entweder waren die Kinder gar nicht abgeholt worden, oder sie waren zurückgeschickt worden, und Raymond Gaskill hatte da weitergemacht, wo er aufgehört hatte. Als er das getan hatte, war irgendetwas zerbrochen, und Colin war als einziger übrig geblieben.
Es passte nicht zusammen. Ich hatte das Gefühl, ein Puzzle vor mir zu sehen, alle Teile vor mir ausgebreitet, aber ich konnte sie nicht in die richtige Stellung bringen und an ihren Platz stupsen. Jenny hatte gewollt, dass ich das Gesamtbild sah, aber mir verschwamm immer wieder alles vor den Augen. Weder die Zeitung noch die Polizei hatten Raymond überhaupt erwähnt. War es möglich, dass der Sanitäterbericht nicht zutraf? Lebte er womöglich noch?
Die letzte Seite enthielt einfach nur eine Adresse im Westen der Stadt. Ich legte sie beiseite. Nichts in Chicago interessierte mich im Augenblick. Was ich verstehen musste, war, was sich vor elf Jahren in Denver abgespielt hatte. Ich studierte die Papiere noch einmal, die auf meinem Bett verstreut lagen, und schleichend überkam mich kaltes Entsetzen. Es waren fünf Menschen in der Wohnung gewesen. Vier von ihnen waren übel zusammengeschlagen worden. Einer von ihnen war erschossen worden. Entweder hatte Raymond Gaskill Selbstmord begangen – und er wirkte nicht wie ein Mann, der sonderlich viel Reue empfand –, oder jemand anders hatte den Abzug betätigt.
Ich begriff auf einmal mit entsetzlicher Klarheit, wer dieser Jemand gewesen war.
So viel Blut. Solch ein großer Verlust, und Colin trug ihn jeden Tag mit sich herum. Ich weinte um ihn, um den verängstigten kleinen Jungen, der er gewesen sein musste, und um den gefestigten, furchtlosen Mann, zu dem er herangewachsen war. Er hatte überlebt und sich ein Leben erarbeitet, und ich tat nichts anderes, als darauf einzuhämmern und Antworten auf Fragen zu verlangen, die mich nichts angingen. Er hatte recht gehabt. Billy hatte recht gehabt.
Meine Mutter klopfte an die Tür. Hastig sammelte ich die Papiere ein und schob sie unter mein Kopfkissen.
» Ich mache mich jetzt auf den Weg«, sagte sie und steckte den Kopf herein. Obwohl sie erst in der Stadt ankommen würde, wenn die Besuchszeit im Gefängnis vorbei war, trug sie einen hübschen Rock und Perlen zu
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