Der Weg in Die Schatten
Krallen, die schärfer als Rasiermesser sind, funkeln im Licht. Remo blutet überall: aus Nase und Mund, am Hals, an der Seite seines Kopfes. Er hat nicht mehr lange zu leben.
Sie kann den nahen Tod riechen.
Wild brüllend, öffnet Tikki das Maul, um ihm ihre Zähne zu zeigen, die Fangzähne, die wie Messer aussehen, so daß er das wahre Ausmaß ihrer Macht erkennen und die Luft mit seiner Angst füllen kann.
Remo schreit: »ICH BRAUCHTE DAS GELD!«
Sie reißt ihm ein Ohr ab und beißt ihm die Kehle durch. Er ist nur noch Beute.
Die Innenstadt ist Nichts. Das wirkliche Leben tobt in den Reds, Seattle Nord oder ›Everett‹. Dort wimmeln die Straßen von Leuten, stehen die Mädchen an den Ecken, mischen sich die Drahtköpfe, Perversos und Punks in Schwarz mit den Pinkeln und Execs, den Chippies in glänzendem Leuchtplastik, den Freaks in ihren Bodystockings, den Metas, den Amerindianern, den Skinheads, den Messerklauen, den Polis und den Skats. Es gibt Schieber, die alles verkaufen, von verführerischen Jungen über Designerdrogen bis zu voll funktionstüchtigen biosynthetischen Gliedmaßen und Organen, alles zu garantiert vernünftigen Preisen. Es ist ein Glitzer‐Blitzer‐Flitzer‐Neon-Chrom‐Kristall‐Spiegel‐Sammelsurium von Menschen ‐ das auf jeder Straßenseite und in jeder noch so winzigen Gasse schwitzt, schiebt, flucht, schreit und lacht. Die Clubs und Fleischbeschauen, die Bodyshops und Pornoläden, die Junkfood‐Kaschemmen, die verwanzten Hotels, die Cabarets und Cafés und SimSinn‐Theater, alles strahlt vor Neon und krallt sich auf der Jagd nach Extraeinnahmen in die Bürgersteige.
Tikki spaziert mit der ihr eigenen barbarischen Leichtigkeit über diese Straßen. Die Action in den Reds ist einer ihrer Hauptgründe, in der Stadt zu leben, Die Reds sind wild und schön, das Leben vibriert in ihnen mehr als in jedem anderen Teil der menschlichen Domäne. Sie kommt oft hierher, um zu spielen oder lediglich ein paar Stunden Müßiggang zu genießen.
Es gibt viele, die ihre menschliche Gestalt erkennen, da ihr Outfit mehr darauf angelegt ist aufzufallen, als mit der Masse zu verschmelzen. Sie ist groß und schlank und verbirgt ihre Augen hinter einer golden verspiegelten Sonnenbrille im Porschedesign. Ihr Gesicht ist eine peinlich genau gestaltete karmesinrote Maske mit schwarzen Streifen.
Ihr kurzgeschnittenes Haar mit der buschigen Strähne über der Braue ist passend zu ihrer Gesichtsmaske gefärbt. Sie ist heute abend so wie immer gekleidet, in glänzendes rotes Leder ‐ Jacke, Netzhemd, Slacks und fingerlose Handschuhe ‐, das durch Fransenbänder um Hals, Handgelenke und Hüften und durch geschmeidige schwarze Stiefel, die sich nur wenig über die Knöchel erheben, ›gestreift‹ wirkt.
Die Fransen sind natürlich aus Gold, niemals aus Silber.
Silber tut weh.
Ihr Versteck in der Nähe der Endstation der Fähre ist für sie jetzt nicht mehr von Nutzen, aber das ist Tikki ziemlich egal.
Ähnliche Orte unterhält sie in der ganzen Stadt: Höhlen, Schlupflöcher und andere besondere kleine Verstecke für besondere Zwecke. Einer weniger macht kaum einen Unterschied. Sie hat wichtigere Dinge zu bedenken, wie zum Beispiel das Ziel ihres kleinen Abendspaziergangs.
Während sie ein wachsames Auge auf die Straße gerichtet hält, sorgt sie unterwegs für ihr leibliches Wohl: eine Tasse Cha, ein paar scharf gewürzte Muscheln, eine Schüssel mit Nudeln, eins von Steel Rats berüchtigten Würstchen.
Die Leute auf der Straße halten zum größten Teil Abstand, gehen ihr rasch aus dem Weg. Jene, die sie geschäftlich kennen, lächeln ihr vorsichtig zu oder nicken kurz, während sie ein oder zwei höfliche Grußworte äußern. Selbst die allerletzten Gossenpunks haben von der Summe gehört, die auf ihren Kopf steht, aber niemand scheint die Absicht zu haben, aus diesem Wissen Nutzen zu ziehen. Ihre Miene ist grimmig, und ihr Ruf für plötzliche Gewaltausbrüche eilt ihr voran. Es hat außerdem Gerüchte über den kürzlichen Tod eines Jungen namens Remo Sullivan gegeben. Diese Gerüchte tragen nur zu ihrer Reputation bei.
Die großen Doppeltüren von ›The Rubber Suit‹ sind an diesem Abend weit geöffnet und werden sowohl von einer Kette als auch von einer Phalanx Muskelmännern beschützt.
Bruiser Metal dröhnt nach draußen auf den Bürgersteig und lädt das Leben auf der Straße zum Verweilen ein. Die Band, die in dieser Woche im Suit spielt, ist besonders heiß ‐
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