Der Weg in Die Schatten
lohnt, ihn zu wiederholen, nicht wahr? Aber du warst nicht einfach irgendein Freier. Nein, deinetwegen wurde sie auch noch entführt. Und was dann? Bist du ihr gefolgt? Nein, du hast gezeigt, wie sehr du sie wirklich liebtest. Hast es darauf ankommen lassen, ob die Entführer es ernst meinten. Du warst
immer bereit, ein Glücksspiel mit dem Leben anderer Menschen zu wagen, nicht wahr, Durzo? Du Feigling.«
Durzos Glas explodierte an dem Fass hinter ihr. Er zitterte heftig und deutete mit dem Finger auf ihr Gesicht. »Du! Du hast überhaupt kein Recht. Du hättest alles für Liebe aufgegeben? Pferdescheiße. Wo ist jetzt der Mann in deinem Leben, Gwin? Du hurst nicht mehr, also gibt es nichts, worauf ein Mann eifersüchtig sein könnte, nicht wahr? Aber es gibt immer noch keinen Mann, oder? Willst du wissen, warum du die perfekte Hure bist? Aus demselben Grund, warum es keinen Mann gibt. Weil du nicht die Fähigkeit zur Liebe hast. Du bist nur eine Möse. Du saugst alle aus und lässt sie fürs Vergnügen zahlen. Also, komm mir nicht mit diesem blutenden Herzen, mit dieser Pferdescheiße ›Ich habe es getan, um meine Schwester zu retten‹. Für dich ging es immer um Macht. Oh, natürlich, es gibt Frauen, die für Geld huren oder für Ruhm oder weil sie keine anderen Möglichkeiten haben. Aber dann gibt es noch die Huren. Du fickst vielleicht niemanden mehr, Gwin, aber du wirst immer eine Hure sein. Also. Wie. Heißt. Sie?« Er biss jedes Wort ab wie schimmeliges Brot.
»Uly«, antwortete Gwinvere leise. »Ulyssandra. Sie lebt bei einer Amme in der Burg.«
Sie betrachtete das Bier, das sie in der Hand hielt. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, das Glas gefüllt zu haben. War es das, worauf Durzo sie reduzierte? Eine unterwürfige kleine... Sie wusste es nicht einmal. Sie hatte das Gefühl, als sei sie ausgeweidet worden.
Es kostete sie ihre ganze Kraft, in das Bierglas zu spucken und es sogar mit einem Anflug von Lässigkeit auf die Theke zu stellen.
»Nun, es ist hart, ein Opfer der Umstände zu sein«, sagte Durzo, in dessen Stimme ein mörderischer Unterton schwang.
»Du wirst nicht... du würdest doch nicht dein eigenes Kind töten.« Das konnte nicht einmal Durzo tun?
»Das wird nicht nötig sein«, erklärte Durzo. »Sie werden es für mich tun.«
Er griff nach dem Bierglas, lächelte Gwinvere über den Schaum hinweg an und trank. Dann leerte er das Glas mit einem Schluck bis zur Hälfte und sagte: »Ich gehe. Es riecht hier drin nach alter Hure.« Er kippte den Rest seines Biers auf den Boden und stellte das Glas vorsichtig auf die Theke.
Kylar erwachte zwei Stunden vor Sonnenaufgang und fragte sich kurz, ob der Tod ein zu hoher Preis für eine volle Nacht Schlaf wäre. Die korrekte Antwort war jedoch unvermeidlich, daher hievte er sich nach einigen Minuten aus dem Bett. Er zog sich leise in der Dunkelheit an, griff in seine dritte Schublade, wo wie immer seine graue Blutjungenrobe lag, und steckte die Hand in seinen Aschekrug, um sich das Gesicht zu schwärzen.
Während der vergangenen neun Jahre hatte er gelernt, seinen Mangel an Magie auszugleichen. Wenn Blint in optimistischer Stimmung war, was immer seltener vorkam, lobte er Kylar dafür. Er sagte, dass sich zu viele Blutjungen in allen Dingen auf ihre Magie verließen und dass er sich für unberechenbare Situationen immer auch seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten sicher sein wollte. In dem bitteren Geschäft waren unberechenbare Situationen der Normalfall. Außerdem, so sagte Blint, wenn ein Schritt ohnehin kaum ein Geräusch macht, das es zu verdecken gilt, braucht man seine Magie nicht mehr allzu sehr, um es zu dämpfen.
Manchmal zeigte Kylars Anpassungsfähigkeit sich auf spektakulärere Weise, doch meistens offenbarte sie sich in diesen kleinen Dingen, wie zum Beispiel darin, dass er seine grauen
Roben in derselben Schublade auf bewahrte und sie auf dieselbe Weise faltete, wann immer er sie wusch. Zumindest hoffte er, dass es seine Anpassungsfähigkeit war und dass Blint ihn nicht mit seinem Ordnungswahn angesteckt hatte. Ernsthaft, was hatte es damit auf sich, dass der Mann Schlösser dreimal verschloss, und was hatte es mit dem Herumwirbeln von Messern und dem Knoblauch auf sich und den ständigen Erwähnungen des Nachtengels?
Lautlos öffnete Kylar das Fenster und kroch über das Dach. Jahrelange Übung hatte ihn gelehrt, wo er gehen konnte und wo er kriechen musste, um von den Menschen unten nicht gehört zu werden.
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