Der Weg in Die Schatten
musste Kylar, selbst wenn er erst kurz vor Morgengrauen nach Hause kam, mit der Sonne aus den Federn.
Er brummelte lautlos vor sich hin und entsann sich einer Zeit, da es Spaß gemacht hatte, bei Nacht durch die Straßen Cenarias zu schleichen.
Die Hintertür des Ladens war wie immer verschlossen. Gutmann Aalyep hatte auch gute Schlösser an seinen Türen. Obwohl
er ihm nie begegnete - sie tauschten lediglich Briefe aus -, hatte Kylar das Gefühl, Gutmann Aalyep zu kennen, und der Mann war ein seltsamer Bursche. Unter Durzo Blints’ Schutz hätte der Mann seine Türen gefahrlos weit offenstehen lassen können. Niemand in der Stadt würde es wagen, ihn zu bestehlen.
Aber wie Blint sagte, der größte Schatz eines Mannes sind seine Illusionen. Sosehr der Mann beteuerte, das Lehren zu hassen, schien er doch für jede Gelegenheit einen Aphorismus zu haben. Kylar wählte aus der Ausrüstung an der Innenseite seines Gürtels das richtige Werkzeug aus, kniete sich vor die Tür und machte sich an die Arbeit. Er seufzte. Es war ein neues Schloss, und es stammte von Master Procl, dem besten Schlosser in der Stadt. Neue Schlösser, selbst wenn sie nicht von hoher Qualität waren, saßen in der Regel fester.
Kylar tastete mit seinem Werkzeug die Stifte ab. Vier Stifte, zwei davon etwas locker. Das bedeutete, dass es die Arbeit von einem der Gesellen Procls war und nicht die des Meisters persönlich. Binnen zehn Sekunden hatte er das Schloss geöffnet, aber ein Werkzeug dabei verbogen. Kylar fluchte im Stillen - er würde sich Ersatz dafür beschaffen müssen -, dann steckte er sein Werkzeug weg. Eines Tages würde er Werkzeug aus Mistarille in Auftrag geben, wie Master Blint es besaß. Mistarille ließ sich biegen, ohne jemals zu brechen, aber es war teurer als sein Gewicht in Diamanten.
Gutmann Aalyeps Behauptung, sein Geschäft sei eine Kräutergärtnerei, war keine müßige Prahlerei. Er hatte drei Räume: den großen, behaglichen Laden mit beschrifteten Glaskrügen, in denen er getrocknete Kräuter zur Schau stellte, eine winzige Schreibstube und die Gärtnerei, in der Kylar stand. Der kleine Raum war feucht, und die intensiven Gerüche waren beinahe überwältigend.
Nachdem Kylar die Fortschritte einiger Pilze überprüft hatte, war er sehr zufrieden. Mehrere tödliche Pilze würden binnen einer Woche erntereif sein. Pilze gehörten zu den Gewächsen, die Gutmann Aalyep straffrei züchten konnte - tödliche Varianten ließen sich von essbaren Pilzen nur von ausgebildeten Kräuterkundigen unterscheiden und natürlich von ausgebildeten Giftmischern.
Vorsichtig, damit er nicht ausgerechnet auf eins der knarrenden Bretter trat, bewegte Kylar sich durch den Rest des Gewächshauses und beurteilte mit geschultem Auge die Pflanzen. Er hob den dritten Pflanzkasten in der zweiten Reihe hoch und sah sechs sorgsam in einzelne Lammfellbeutel gepackte Bündel. Er nahm sie heraus und überzeugte sich, dass jedes das enthielt, was er bestellt hatte. Vier Bündel für Master Blint und zwei für sich selbst. Kylar verstaute die Kräuter in der Tasche, die er unter seinem Mantel auf dem Rücken trug, und legte die Börse mit Aalyeps Geld in den kleinen Raum. Anschließend stellte er den Pflanzkasten an seinen Platz zurück.
Dann fühlte sich irgendetwas plötzlich falsch an. Binnen eines Wimpernschlags zog Kylar zwei Kurzschwerter.
Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Das ungute Gefühl hielt an... Da war kein Geräusch. Es gab keinen Angriff, nur einen leichten Druck wie von der denkbar sanftesten Berührung eines Fingers.
Kylar konzentrierte sich auf das Gefühl, während er seinen Blick aufmerksam durch den Laden wandern ließ und die Ohren spitzte, um auch noch das leiseste Geräusch wahrzunehmen. Es war wie eine Berührung, aber es schob sich an ihm vorbei, in Richtung...
Das Schloss an der Hintertür schnappte mit einem Klicken wieder ein. Er saß in der Falle.
34
Kylar unterdrückte den Drang, zur Tür zu laufen und sie aufzureißen, und verharrte vollkommen reglos. Außer ihm war niemand im Raum. Dessen war er gewiss. Aber er dachte - ja, er konnte im Laden jemanden atmen hören.
Dann wurde ihm klar, dass es mehr als eine Person war. Eine Person atmete schnell, in flachen Zügen, aufgeregt. Die andere atmete leicht, aber langsam. Nicht angespannt, nicht aufgeregt. Das machte Kylar Angst.
Wer lauerte einem Blutjungen auf, ohne dabei nervös zu werden?
Da er befürchtete, jedwede Initiative zu verlieren, bewegte
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