Der Weg in Die Schatten
oder zu hören, sondern auch schon, um sich lediglich festzuhalten, und zwar lautlos.
Wenn Durzo ihn hörte, war Kylar vollkommen ungeschützt. Die Füße hinter der Sprosse verkeilt, würde er sich nicht schnell bewegen können. Und er gab ein riesiges Ziel ab.
Sein einziger Vorteil würde das Überraschungsmoment sein. Und Durzo hatte ihn gelehrt, dass dies der wichtigste Vorteil von allen war.
Eine Minute verstrich.
Die Ventilatoren verstummten ganz. Selbst das leise Murmeln von Stimmen draußen war erstorben. Der Rauch, der weiter auskühlte, füllte den unteren Teil des Tunnels immer weniger.
Quälend langsam drehte Kylar den Kopf, darauf bedacht, dass nicht einmal sein Kragen raschelte. Gewiss sollte er jetzt, da der Rauch so tief lag und so langsam nach Norden strömte, irgendetwas Auffälliges entdecken können, einen Wirbel, irgendeine Unregelmäßigkeit.
Er atmete genauso, wie er sich bewegte: langsam, vorsichtig. Seine Nase, die er sich einige Zeit zuvor an der Mauer des Turms blutig geschlagen hatte, ließ nur durch ein Nasenloch Luft ein. Sein linker Arm brannte; seine Beine schmerzten, aber er rührte sich dennoch nicht, gab keinen Laut von sich.
Durzo wuchs in seinem Herzen, während er dort hing. Wie konnte er gegen Durzo kämpfen? Wie viele Männer hatte sein Meister getötet? Wie viele Male hatte Durzo ihn in jeder Prüfung, jeder Herausforderung besiegt? Durzo konnte für alle Ewigkeit am Grund des Tunnels warten. Er hatte wahrscheinlich Aufstellung neben dem kleineren nördlichen Ventilator genommen. Mit dem Licht im Rücken würde er sehen, sobald Kylar sich fallen ließ, und er würde binnen einer Sekunde bei ihm sein.
Wer war Kylar, eine Legende zu töten?
Er versuchte noch immer, das Rasen seines Herzens zu beruhigen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Die heißen Gefühle,
die ihn während der Nacht angetrieben hatten, kühlten ab. Er fror. Fühlte sich leer. Durzo hatte recht: Gerechtigkeit hatte keinen Platz in dieser Welt. Logan war tot. Elene war geschlagen worden, und die Männer, die alles an Bösem getan hatten, was Kylar sich vorstellen konnte, waren im Begriff zu siegen. Es war immer so gewesen. Es würde immer so sein.
Er konnte sich nicht mehr sehr lange festhalten. Durzo würde das Geräusch seines Herzens hören, das in seiner Brust hämmerte. Er zwang sich, langsam ein- und auszuatmen.
Geduld! Geduld.
Wieder holte er langsam Luft und hielt inne. In der Luft hing ein kaum wahrnehmbarer Geruch.
Knoblauch! Meister und Lehrling hatten den gleichen Gedanken gehabt. Durzo hing genau wie Kylar, ein Spiegelbild, nur Zentimeter entfernt, während er den Rauch auf die leiseste Kräuselung hin beobachtete.
Kylar riss den Kopf hoch und stach mit dem kleinen Messer um sich. Er musste ein Geräusch gemacht haben, denn der Fleck Dunkelheit, der nur eine Sprosse über ihm gehangen hatte, bewegte sich ebenfalls.
Sein Messer durchschnitt Stoff, und er blockierte mit der anderen Hand einen Angriff, während sie beide von der Decke fielen.
Kylar schlug schwer in der Pfütze auf dem Boden auf, die sich auf dem Grund des Tunnels gesammelt hatte. Sein Nacken schmerzte. Er rollte sich herum und sprang auf die Füße. Dann hörte er das Klirren eines Schwertes, das aus der Scheide gezogen wurde.
Durzo wurde wieder sichtbar. Kylar ließ sich ebenfalls sichtbar werden. Er war zu müde, um die Unsichtbarkeit auch nur eine Sekunde länger aufrecht zu halten. Er fühlte sich wie ein
ausgewrungener Lumpen. Jetzt starrte er den Meter Stahl in Durzos Hand und die zehn Zentimeter in seiner eigenen an.
»Jetzt ist es also so weit«, sagte Durzo. »Ich nehme nicht an, dass du über noch mehr solche Tricks wie den oben im Turm verfügst?«
»Ich weiß nicht einmal, wie das passiert ist«, erwiderte Kylar. »Ich habe nichts mehr übrig.«
»Dann ist es ja gut, dass ich dir nicht erlaubt habe, Roth zu folgen, nicht wahr?«, bemerkte Durzo, auf dessen Lippen dieses aufreizende kleine Grinsen zu sehen war.
Kylar brachte es nicht über sich, wütend zu werden. Er war eine leere Hülle. »Ich wüsste nicht, inwiefern das eine Rolle spielt«, sagte er. »Aber mir wäre es lieber, wenn mein Blut an seinen Händen klebte statt an Euren.«
Er schob den Dolch in die Scheide.
»Du hast das Gift der weißen Natter benutzt, nicht wahr?«, fragte Durzo. Er lachte. »Natürlich hast du das getan.« Durzo salutierte Kylar und schob sein Schwert in die Scheide.
Dann sackte er in sich zusammen und musste sich
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