Der Weg in Die Schatten
würde.«
»Was sagt Ihr da?«, fragte Kylar. Nein. Gott, bitte, nein...
»Nicht Ratte hat Puppenmädchen verstümmelt«, fuhr Durzo fort. »Ich habe es getan.«
Der Rauch füllte jetzt den halben Tunnel aus. Der gewaltige Ventilator drehte sich langsam, und der kleinere drehte sich so schnell, wie Kylars Herz schlug. Das Mondlicht wurde in Stücke gehackt und willkürlich in dem wabernden Qualm verteilt.
Kylar konnte sich nicht bewegen. Konnte nicht atmen. Konnte nicht einmal protestieren. Es war eine Lüge. Es musste eine Lüge sein. Er kannte Ratte. Er hatte seine Augen gesehen. Er hatte das Böse dort gesehen.
Aber er hatte niemals in Durzos Augen Böses gesehen, nicht wahr? Kylar hatte seinen Meister Unschuldige töten sehen, doch er hatte sich niemals gestattet, dort das Böse zu sehen.
Der große Ventilator drehte sich jetzt schneller. Sein Wupp-Wupp-Wupp hackte die Zeit in Stücke, markierte ihr Verstreichen, als sei die Zeit von Bedeutung.
»Nein.« Kylar konnte das Wort kaum durch den Würgegriff der Wahrheit zwingen, der seine Kehle zusammenkrampfte. Blint würde es tun. Leben ist leer. Leben ist leer. Ein Straßenmädchen ist genau das wert, was sie für ihr Hurengeschäft bekommt.
»Nein!«, rief Kylar.
»Es endet jetzt, Kylar.« Durzo schimmerte und verschwand, die Dunkelheit umarmte ihn. Kylar spürte, wie heißer Zorn ihn ergriff.
Unter den Geräuschen der protestierenden Ventilatoren und des heißen Windes hörte Kylar die Schritte kaum. Er fuhr herum und sprang.
Der Qualm kreiselte, während der schattenhafte Blutjunge an ihm vorbeirannte.
Er hörte, wie ein Schwert aus der Scheide glitt, und zog seinerseits Vergeltung. Ein Schatten erschien, zu nah, zu schnell. Sie kreuzten die Klingen, und Kylars Schwert flog durch die Luft. Er sprang zurück.
Kylar kam langsam und lautlos wieder auf die Beine, spannte seine Sinne an, geduckt in dem Rauch. Der Zorn überwand seine Erschöpfung, und er kanalisierte ihn, zwang ihn, Klarheit zu bringen.
Er hielt Ausschau nach jedem Vorteil, aber es war nur wenig zu finden. Er konnte sich in der Nähe des riesigen südlichen Ventilators halten, und dieser würde ihm Rückendeckung geben, aber Blint könnte ihn mühelos in die sich drehenden Schaufelblätter stoßen. Sie waren nicht so scharf und drehten sich auch nicht so schnell, dass sie einen Arm oder ein Bein abtrennen konnten, aber sie würden ihn gewiss betäuben. In einem Kampf gegen Durzo würde das den Tod bedeuten.
In die Mauern und die Decke des Tunnels waren in regelmäßigen Abständen Handgriffe eingelassen, damit die Arbeiter alle Bereiche erreichen konnten. Doch dort, wo Kylar stand, befanden sich die Handgriffe mindestens drei Meter über seinem Kopf.
Ein kurzer Stoß seiner Magie durchzuckte ihn, als er sprang. Er fand eine Sprosse. Als seine rechte Hand etwas nachgab,
stürzte er beinahe ab. Er hatte vergessen, dass er sich die Hand an dem Fenster aufgerissen hatte.
Kylar fuhr herum und hängte seine Füße hinter eine weitere Sprosse, um Halt zu finden. Seine rechte Hand war zu schwach, um sein Gewicht zu halten, daher zog er mit dieser Hand das Tanto. Der Gong erklang abermals, als Kylar das Tanto betrachtete. Es war gerade, fünfzehn Zentimeter lang und hatte eine gebogene Spitze, um eine Rüstung zu durchstoßen. Mit einer derart geschwächten Hand konnte er mit diesem Messer nicht kämpfen.
Er schob das Tanto in die Scheide, öffnete den Verschluss einer speziellen Scheide und zog ein kurzes, gebogenes Messer, das nur halb so groß war wie das Tanto. Vier winzige Löcher entlang des Rückens der Klinge waren mit Baumwolle ausgestopft. Die Scheide war nass. Kylar wusste nicht, ob der Fluss das Gift der weißen Natter weggewaschen hatte oder nicht. Aber er hatte keine Wahl.
Der Wind wurde langsamer und erstarb dann abrupt. Die großen Ventilatoren drehten sich noch immer und rumpelten auf ihren geölten Achsen.
Kylar bewegte sich nicht und wartete. Der Rauch senkte sich allmählich wieder und erfüllte nicht länger den ganzen Tunnel. Wenn Durzo sich das nächste Mal durch den Rauch bewegte, würden dessen Verwirbelungen Kylar den Weg seines Meisters verraten, auch wenn er den Blutjungen selbst nicht sehen konnte.
Das Geräusch der Ventilatoren war jetzt nur mehr ein Wispern, und schon bald konnte Kylar keinen anderen Laut mehr hören als das Hämmern seines Pulses in seinen Ohren. Er konzentrierte sich jetzt und musste sich anstrengen - nicht nur um den Blutjungen zu sehen
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