Der Weg in Die Schatten
war es, worauf sie gewartet hatten. Azoth war kaum länger als eine Minute fort gewesen, und sie hatten Puppenmädchen geholt. Es würde ihm nicht einmal etwas nutzen, wenn er die ganze Gilde weckte. In der Dunkelheit
und der Verwirrung würde er einfach nicht wissen, welche von Rattes Großen verschwunden waren. Und was würde er tun, selbst wenn er es wüsste? Selbst wenn er wüsste, wer fort war, würde er nicht wissen, wohin sie gegangen waren. Selbst wenn er wüsste, wohin sie gegangen waren, was würde er tun?
Er lag in der Dunkelheit, stolperte über Gedanken und starrte auf die eingesackte Decke. Er hatte sie gehört. Mochte er für immer verdammt sein. Er hatte das Geräusch gehört und war nicht einmal hineingegangen, um nachzusehen.
Vollkommen erschöpft lag er in der Dunkelheit. Die Wache wechselte. Die Sonne ging auf. Die Gilderatten regten sich, und er starrte auf die eingesackte Decke und wartete darauf, dass sie wie alles andere über ihm zusammenbrach. Er hätte sich nicht bewegen können, selbst wenn er es gewollt hätte.
Er lag im hellen Licht. Kinder kreischten, Kleine zogen an ihm und riefen etwas. Etwas über Dachs. Fragen. Es waren lauter Worte. Worte waren Wind. Jemand schüttelte ihn, aber er war weit fort.
Erst lange danach erwachte er. Es gab nur ein einziges Geräusch, das ihn aus seiner Trance holen konnte: Rattes Gelächter.
Ein Kribbeln überlief ihn, und er setzte sich aufrecht hin. Er hatte noch immer das Shiv. Auf dem Boden war getrocknetes Blut, aber Azoth sah es kaum. Er stand auf und ging auf die Tür zu.
Wieder erscholl dieses schreckliche Lachen, und Azoth rannte los.
Sobald er durch die Tür trat, sah er aus dem Augenwinkel, wie der Schatten des Türrahmens sich in die Länge zog und dann vor ihm schloss. So schnell wie eine Falltürspinne, die er einmal gesehen hatte, und genauso wirkungsvoll. Er krachte in den Schatten hinein, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. In seinem
Kopf hallte es, als er in die tiefe Dunkelheit zwischen dem Haus der Gilde und der Ruine daneben zurückgezogen wurde.
»So erpicht auf den Tod, Kleiner?«
Azoth konnte nicht den Kopf schütteln, konnte den Griff, der ihn hielt, nicht abschütteln. Der Schatten hatte eine Hand wie Eisen über seinem Gesicht. Langsam begriff er, dass es Master Blint war.
»Fünf Tage, Kind. Fünf Tage hattest du, um ihn zu töten.« Er flüsterte Azoth ins Ohr, und ein schwacher Hauch von Knoblauch und Zwiebeln lag in seinem Atem. Vor ihnen sprach Ratte mit der Gilde, lachte und brachte sie dazu, mit ihm zu lachen. Einige von Azoths Eidechsen waren dort; sie lachten ebenfalls und hofften, Rattes Aufmerksamkeit zu entgehen.
Es fängt also bereits an. Was immer Azoth erreicht hatte, fiel bereits in Stücke. Der Rest der Eidechsen war verschwunden. Zweifellos würden sie später zurückgekrochen kommen, um zu sehen, was geschehen war. Azoth konnte nicht einmal wütend auf sie sein. Im Labyrinth tat man, was man tun musste, um zu überleben. Es war nicht ihr Versagen; es war seines. Blint hatte recht: Die Großen zu beiden Seiten von Ratte waren bereit. Ratte selbst war bereit. Wenn Azoth dort hinausgerannt wäre, wäre er gestorben. Oder Schlimmeres. All die Zeit hatte er gehabt, um zu planen, und er hatte nichts getan. Er hätte diesen Tod verdient.
»Hast du dich beruhigt, Kind?«, fragte Blint. »Gut. Denn ich werde dir zeigen, was dein Zögern gekostet hat.«
Ein alter Mann mit gebeugtem Rücken und frisch gebügelter Uniform mit goldenen Tressen und dem aufsteigenden weißen Falken der Gyres auf Hermelingrund hatte Solon zum Abendessen geführt. Dieser Falke, überlegte Solon, war im Laufe der
Jahrhunderte zu etwas geworden, in dem man den Gyrfalken, der er war, kaum noch erkannte. Ein nördlicher Falke. Der aber nicht in Khalidor und nicht einmal in Lodricar seine Heimat hatte, sondern im Frost. Also sind die Gyres in Cenaria kaum mehr ansässig, als ich es bin.
Das Abendessen fand in der großen Halle statt, eine seltsame Wahl in Solons Augen. Es war nicht so, dass die große Halle nicht beeindruckend gewesen wäre - sie war eher zu beeindruckend. Sie musste beinahe so groß sein wie die große Halle von Burg Cenaria, geschmückt mit Wandteppichen, Bannern, Schilden lang besiegter Feinde, riesigen Gemälden, Statuen aus Marmor mit Blattgoldüberzug und einem Deckengemälde, das eine Szene aus dem Alkestia darstellte. Inmitten solcher Pracht schrumpfte der Tisch zu Bedeutungslosigkeit, obwohl er
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