Der Weg in Die Schatten
die einer Hure gewiss so oft begegnete, dass sie inzwischen bestens dagegen gerüstet war.
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Nein«, antwortete sie. »Aber da war einmal ein ziemlich jämmerlich ausgestatteter Baron, der es schätzte, wenn ich so tat, als sei ich seine Kinderfrau, und wenn er unartig war, habe ich -«
»Verschone mich.« Es war ein Jammer, sie am Weitersprechen hindern zu müssen, aber sie hätte zehn Minuten darüber geredet und nicht eine einzige Einzelheit ausgelassen.
»Was willst du dann, Durzo? Jetzt starrst du wieder auf deine Hände hinab.«
Das tat er tatsächlich. Gwinvere konnte mehr Ärger machen, als sie wert war, aber ihr Rat war immer gut. Sie war die scharfsichtigste Person, die er kannte, und um Längen klüger als er selbst. »Ich will wissen, was ich tun soll, Gwinvere.« Nach einem langen Schweigen hob er den Blick von seinen Händen.
»Wegen des Jungen?«, fragte sie.
»Ich glaube nicht, dass er es in sich hat.«
Als Azoth um die Ecke kam, saß Ratte auf der Veranda der Ruine, die die Gilde ihr Zuhause nannte. Azoths Brust zog sich beim Anblick des hässlichen Jungen zusammen. Ratte war allein und wartete auf ihn. Er drehte ein kurzes Schwert auf der Spitze. Verrostete Stellen spielten mit dem Zwinkern des abnehmenden Mondes auf dem glänzenden Stahl.
In diesem Augenblick der Achtlosigkeit wirkte Rattes Gesicht so unbeständig wie dieser sich drehende Stahl, in einem Augenblick das Ungeheuer, das Azoth immer gekannt hatte, im nächsten ein zu groß geratenes, verängstigtes Kind. Azoth schlurfte weiter, verwirrt und erschrocken über diesen kurzen Blick auf ein menschliches Wesen. Er hatte zu viel gesehen.
Er ging durch den Gestank der Gasse, die die ganze Gilde als Toilette benutzte. Er achtete nicht einmal darauf, wo er hintrat. Er war hohl.
Als er auf blickte, hatte Ratte sich erhoben; dieses vertraute, grausame Grinsen lag auf seinen Lippen, und das verrostete Schwert deutete auf Azoths Kehle.
»Das ist weit genug«, sagte Ratte.
Azoth zuckte zusammen. »Ratte«, erwiderte er und schluckte.
»Nicht näher«, befahl Ratte. »Du hast ein Shiv. Gib es mir.«
Azoth war den Tränen nahe. Er nahm das Shiv aus seinem Gürtel und hielt es dem älteren Jungen mit dem Griff voran hin. »Bitte«, sagte er. »Ich will nicht sterben. Es tut mir leid. Ich werde tun, was immer du willst. Nur tu mir nicht weh.«
Ratte nahm das Shiv.
»Er ist klug, das muss ich ihm lassen«, sagte Durzo. »Aber es gehört mehr als Intelligenz dazu. Du hast ihn hier mit all den anderen Gilderatten gesehen. Hat er das...?« Er schnippte mit den Fingern, außerstande, das richtige Wort zu finden.
»Die meisten von ihnen sehe ich nur im Winter. Den Rest des Jahres schlafen sie auf der Straße. Ich gebe ihnen ein Dach überm Kopf, Durzo, kein Zuhause.«
»Aber du hast ihn gesehen.«
»Ich habe ihn gesehen.« Sie würde ihn nie vergessen.
»Gwinvere, ist er schlau?«
Ratte schob sich das Shiv in den Gürtel und klopfte Azoth ab. Er fand keine weiteren Waffen. Seine Furcht löste sich auf, und nur Jubel blieb zurück. »Dir nicht wehtun?«, fragte er. Er schlug Azoth mit dem Handrücken ins Gesicht.
Es war beinahe lächerlich. Die Wucht des Schlages riss Azoth praktisch von den Füßen. Er landete im Schmutz, und seine Hände und Knie bluteten. Er ist so klein!
Wie konnte ich dies nur jemals fürchten? Azoths Augen bluteten Furcht. Er weinte, stieß in der Dunkelheit leise Wimmerlaute aus. Ratte sagte: »Ich werde dir wehtun müssen, Azoth. Du hast mich dazu gezwungen. Ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich wollte dich auf meiner Seite haben.«
Es war alles zu einfach. Azoth war bereits vernichtet gewesen, als er zur Gilde zurückgekehrt war. Das gefiel Ratte nicht. Er wollte etwas tun, das Azoths Demütigung besiegelte.
Er trat vor und packte Azoth an den Haaren. Dann zog er ihn auf die Knie, wobei er die leisen Schmerzensschreie des Jungen genoss.
Was als Nächstes kommen würde, war er Neph schuldig. Ratte mochte Jungen nicht unbedingt lieber als Mädchen. Er sah da keinen großen Unterschied. Aber Ratte hätte dies niemals als eine Waffe betrachtet, hätte Neph ihm nicht gesagt, wie gründlich es den Kampfgeist eines Menschen brach, wenn man ihm Gewalt antat.
Es war eins von Rattes Lieblingsspielen geworden. Jeder konnte ein Mädchen verängstigen, aber die Jungen in der Gilde fürchteten ihn mehr, als sie je zuvor irgendjemanden gefürchtet hatten. Sie sahen Poppes
Weitere Kostenlose Bücher